Birgit Mandel - 29. Oktober 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

Kunst und Kultur für alle?


Kulturelle Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR

Im Jahr 1990 mit der Wiedervereinigung wurde sehr schnell versucht, das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der DDR den Bedingungen in der BRD anzugleichen. Zugleich wurde erstmalig im Vertrag zur Deutschen Einheit ein eigener Kulturförderparagraf installiert, demzufolge die reichhaltige kulturelle Infrastruktur der DDR erhalten werden sollte. Das führte dazu, dass kaum eines der vielen Theater, Museen und Orchester in der DDR geschlossen wurde. Was jedoch sehr schnell wegbrach und worüber kaum gesprochen wurde, war das breite Netz der DDR-spezifischen breitenkulturellen, soziokulturellen, jugendkulturellen und betrieblichen Einrichtungen und Vermittlungsinstanzen, mit denen der DDR-Staat auch auf kulturellem Gebiet versucht hatte, parteiliche, „sozialistische Persönlichkeiten“ herauszubilden, die kreativ schöpferisch, initiativ und umfassend gebildet die sozialistische Gesellschaft voranbringen sollten. Dafür gab der Staat im Verhältnis weit mehr aus als die Bundesrepublik und weit mehr, als er sich eigentlich leisten konnte, so Gerd Dietrich in seiner „Kulturgeschichte der DDR“ (2018).

 

„Erstürmt die Höhen der Kultur!“ – mit diesem Anspruch an die Arbeiterschaft wurden in der DDR sowohl die klassische Kunst und ihre Vermittlung intensiv gefördert wie die sozialistische Gegenwartskunst, ebenso wie die Volkskunst und ab den 1970er Jahren auch die Unterhaltungskünste.

 

Kulturelle Arbeit und Kulturvermittlung waren verbindlich verankert in den Kitas, den Schulen, den Jugendorganisationen, dem Wohnumfeld und vor allem in den Betrieben. Im Zuge des sogenannten „Bitterfelder Weges“ wurden alle Betriebe seit den 1950er Jahren verpflichtet, kulturelle Angebote bereitzustellen sowohl in Form rezeptiver Aktivitäten wie gemeinsame Theaterbesuche oder Lesungen wie auch in Form von Zirkeln für das künstlerisch-kulturelle oder handwerkliche Laienschaffen. Künstlerinnen und Künstler wurden in die betriebliche Kulturarbeit integriert.

 

Das „künstlerische Volksschaffen“ wurde als Massenbewegung ausgebaut, anfänglich sogar mit der Perspektive, die Grenzen zwischen Laienkunstschaffen und professionellem Kunstschaffen zunehmend aufzulösen. Die Ergebnisse des Laienkunstschaffens wurden in den Betrieben, in Wettbewerben und Festivals und auf den Arbeiterfestspielen prominent präsentiert.

 

Damit verbunden war die Etablierung von Kulturhäusern, auch in ländlichen Regionen, die ein breites Spektrum kultureller Aktivitäten anboten.

 

Bereits seit Mitte der 1960er Jahre wurden in der DDR umfassende empirische Studien zu den „Kulturbedürfnissen und kulturellen Aktivitäten der Werktätigen“ durchgeführt, um deren Interessen und die Wirkungen der kulturellen Angebote zu ermitteln. Auf Basis der ernüchternden Ergebnisse, dass sich ein Großteil der Arbeiterschaft nur wenig für Theater, Literatur und noch weniger für politische Vorträge interessierte, sondern vor allem für geselligkeitsorientierte, unterhaltsame Kulturformen wie Tanzveranstaltungen, Schlager- und Beatmusik, Spiele und Feste, wurde auch der unterhaltenden Kunst und Kultur ein zunehmend hoher Stellenwert beigemessen. Aufgrund eines fehlenden Marktes förderte und organisierte der Staat auch die Unterhaltungskünste und auch Kunstschaffende der „U-Musik“ hatten ein Studium zu absolvieren. Parallel wurden vielfältige Überlegungen angestellt, wie man auch bei den „Arbeitern“ komplexere kulturelle Bedürfnisse ausbilden könnte – so z. B. von Erhard John (1973) und Lothar Parade 1974. Viele der Originaltexte der Kulturwissenschaftler der DDR formulieren dabei ähnliche Ansprüche wie heutige Texte zur kulturellen Bildung und kulturellen Teilhabe.

 

In einem Forschungsprojekt, in das auch Studierende der Hildesheimer Kulturwissenschaften eingebunden waren, wurde auf Basis von Originaldokumenten der SED-Kulturpolitik, Praxisanleitungen für Kulturarbeitende, Studien von DDR-Kultursoziologen untersucht, inwiefern es in der DDR gelang, Ziele einer „Kultur für alle“ zu erreichen. Zentrale Erkenntnisse konnten aus 65 Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen sowie aus 33 Interviews mit Expertinnen und Experten aus Kulturwissenschaft, Kulturvermittlung, Kulturpolitik und Kunstschaffenden gewonnen werden.

 

In den unterschiedlichen Quellen und Interviews wird die Differenz zwischen den offiziellen Tätigkeitsberichten der Kulturfunktionäre und den im Kultursektor tatsächlich stattfindenden Aktivitäten betont. Nicht nur gelang es den Menschen unter Nutzung der staatlichen Ressourcen zunehmend, ihre eigenen kulturellen Interessen durchzusetzen, auch wurden die kulturellen Aktivitäten für viele zum Freiraum vor staatlicher Bevormundung. Trotz Zensur des professionellen wie des Laienkulturschaffens gab es Nischen, die für alternative und zum Teil subkulturelle künstlerische und kulturelle Aktivitäten genutzt wurden. Mit Verboten und ideologischer Einengung forcierten Partei und Staatsfunktionäre ungewollt das widerständige Potenzial der Künste sowie die Fähigkeit in der breiten Bevölkerung, „zwischen den Zeilen zu lesen“, die Mehrdeutigkeit und vielschichtigen Botschaften der Künste zu erkennen und für sich zu nutzen.

Als Ergebnis ist festzuhalten: Auch in der avisierten „klassenlosen Gesellschaft“ der DDR blieben Unterschiede zwischen den Bildungsschichten, zwischen der sogenannten „Intelligenz“ und den „Arbeitern und Bauern“ in Bezug auf kulturelle Interessen und Aktivitäten bestehen. Trotz vielfältiger Vermittlungsmaßnahmen gelang es nicht, Menschen aller sozialen Schichten und vor allem die avisierte Arbeiterschaft für komplexe Formen zeitgenössischer Kunst sowie klassischer Hochkultur nachhaltig zu interessieren, was dafür spricht, dass soziale Lebensverhältnisse immer auch unterschiedliche kulturelle Interessen ausbilden und die Idee einer „Hochkultur für alle“ sich als unrealistisch erweist. Das führte in der DDR-Kulturpolitik zur Erweiterung dessen, was als „legitime“ Kultur gefördert wird.

 

Zugleich kamen alle durch die systematische Einbindung in ihren Alltag mit vielfältigen Kunst- und Kulturformen in Berührung und erhielten erste Zugänge dazu. Kulturvermittlung war als durchgängige Folge vom Kindergarten über Schule, Jugendorganisationen und Betriebe integriert und der Kontakt zu unterschiedlichen Kunst- und Kulturformen brach damit auch im Erwachsenenalter nicht ab.

 

Erkenntnisse für den aktuellen Diskurs um kulturelle Teilhabe

 

Für den aktuellen Diskurs, wie eine chancengerechtere kulturelle Bildung implementiert werden kann, sind Erfahrungen aus der DDR-Kulturpolitik durchaus interessant, auch wenn diese immer vor dem Hintergrund eines autoritären Systems betrachtet werden müssen: Investiert wurde in ein flächendeckendes System von Vermittlung in den verschiedenen Alltagsbereichen und nicht nur in temporäre Projekte. Es bestanden strukturell verankerte Kooperationsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Vermittlungsinstanzen, zwischen Bildungs-, Freizeit-, Kultureinrichtungen, zwischen Betrieben und freien Kunstschaffenden und dauerhafte Patenschaften von Kindergärten, Schulen, Betrieben und Jugendhäusern mit Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Museen, Theater- und Konzerthäusern.

 

Systematisch und regelmäßig wurden die kulturellen Interessen und die Kulturnutzung empirisch erforscht, und es wurden daraus kulturpolitische Konsequenzen gezogen.

 

In der DDR wurden nicht nur Kinder und Jugendliche als Zielgruppen kultureller Bildung adressiert, sondern im Sinne eines lebenslangen Lernens auch alle Werktätigen, die man über die Betriebe und Ausbildungsstätten erreichte. Dadurch, dass oft professionelle Künstlerinnen und Künstler die Vermittlungsarbeit in den Zirkeln übernahmen, hatten diese nicht nur ein zusätzliches Einkommen, sondern es entstanden Kontakte zwischen Kunstschaffenden und Arbeitnehmern sowie wechselseitige Einblicke in ihre Lebens- und Schaffenswelten.

 

Auch in der DDR war die Versorgung der Bevölkerung mit Kunst und Kultur in ländlichen Räumen schwächer entwickelt als in den Großstädten. Dennoch wurde in allen ländlichen Regionen in Kulturhäuser investiert, die ein breites Angebot mit Gastspielen und Kulturzirkeln boten, in vielen Dörfern gab es eine Bibliothek und es wurden gemeinsame Busreisen zu Theater-, Konzert- und Museumsbesuchen durchgeführt.

 

Im Erwachsenenalter nicht kunstaffine Menschen noch für Kunst- und Kulturangebote zu interessieren und zu mobilisieren, ist für Kultureinrichtungen aufgrund vielfältiger Barrieren nur schwer möglich, wie Erkenntnisse der aktuellen Audience-Development-Forschung zeigen. Auch in der DDR beschäftigte man sich mit Barrieren kultureller Teilhabe und versuchte, diese abzubauen: Die kulturellen Angebote waren kostenlos oder sehr kostengünstig. Es gab ausreichend Zeit, diese wahrzunehmen, weil sie in den schulischen Zeitplan oder die Arbeitszeit integriert waren. Die Angebote wurden von Schulen, Arbeitgebern oder gesellschaftlichen Organisationen vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet. Man nahm daran in der Gruppe teil, also in vertrauter Begleitung, wodurch Schwellenängste abgebaut werden konnten. Die für die Mehrheit sehr wichtige soziale und gesellige Dimension von Kulturveranstaltungen war meistens integriert.

 

Die soziale Herkunft spielte eine weniger große Rolle für die Entwicklung kultureller Interessen aufgrund der vielfältigen Vermittlungsstrukturen, in die alle eingebunden waren sowie aufgrund der sehr viel längeren Zeit, die für solche Maßnahmen zur Verfügung stand in den Ganztagsschulen und den staatlich organisierten Freizeitaktivitäten. Die Vermittlungsangebote brachen nicht weg nach Ende der Schulzeit, sondern wurden in der Berufsausbildung und den Betrieben fortgesetzt.

 

Die Publikation der Forschungsergebnisse erscheint im Oktober 2020: Birgit Mandel/Birgit Wolf „Staatsauftrag: Kunst und Kultur für alle – Ziele, Programme und Wirkungen von Kulturvermittlung und kultureller Teilhabe in der DDR „ bei transcript.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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