„Heute tanzen alle jungen Leute …“

Spitzentanz, Staatliches Dorfensemble und der Lipsi im Wettstreit der Systeme

Insgesamt unterscheidet sich die Entwicklung des künstlerischen Tanzes in der DDR durchaus von der in Westdeutschland, wo anknüpfend an den modernen Tanz das Tanztheater von Pina Bausch entstand, mit einer eigenen Arbeitsweise, Ästhetik und Dramaturgie. Tanztheater in der DDR meinte eher Handlungsballett mit einer im Sinne des sozialistischen Realismus verstandenen, allerdings auch auf innere Zustände bezogenen Fabel. Wegweisend dafür war der Choreograf Tom Schilling, der noch von Wigman und Hoyer unterrichtet worden war und ab 1965 das Tanztheater an der von Walter Felsenstein geleiteten Komischen Oper in Berlin etablieren konnte. Daran war auch Jean Weidt beteiligt, mit seiner überwiegend aus Laien bestehenden Gruppe junger Tänzer. Zugleich organisierte Weidt „Die Stunde des Tanzes“ als regelmäßiges Forum für die Arbeiten des Tanznachwuchses. Mit den pädagogischen Impulsen von Palucca entwickelte sich in den 1970er Jahren eine neue Choreografen-Generation, mit Arila Siegert, Dietmar Seyffert, Enno Markwart, Harald Wandtke, Mario Schröder, Irina Pauls, Birgit Scherzer, Stephan Thoss, Silvana Schröder, Gregor Seyffert u. v. m., die noch heute den Bühnentanz in Deutschland mitprägen.

 

In Freizeitgestaltung und Musikgeschmack hatten die DDR-Bürger, trotz oder gerade wegen allzu vieler „verordneter“ Aktivitäten ihre eigenen Präferenzen, wobei die Orientierung am Westen kaum zu vermeiden war. Auch der Gesellschaftstanz wurde in der DDR bald als staatliches Interessengebiet begriffen, was zu Kampagnen gegen „westliche Modetänze“ und zur Erfindung sozialistischer Gegenmodelle führte. Bei der Tanzmusikkonferenz 1959 in Lauchhammer wurde der neue Paartanz „Lipsi“ vorgestellt, den das Leipziger Tanzlehrerpaar Christa und Helmut Seifert als Alternative zu Rock ’n’ Roll und Twist im Staatsauftrag entwickelt hatte. Der Lipsi zeigte, wie im sozialistischen Sinne „richtig“ zu tanzen sei. Bald schon kam es zu Demonstrationen von Jugendlichen, die sich gegen diese Bevormundung im Kampf der Systeme wehrten, der sich dann vor allem im Bau der Mauer manifestierte. Wie sehr der Lipsi-Tanz als eine „reine Propagandasache“, so Hans Bentzien, damals Mitglied der Kulturkommission beim SED-Politbüro, von der Realität entfernt war, veranschaulicht ein Puppentrickfilm von Peter Blümel: „Mr. Brown aus USA“ (1960). Da lernt ein Messegast in Leipzig den Lipsi kennen und bringt ihn mit nach Hause, wo sich die amerikanische Jugend schnell dafür begeistert. Dieser überzogene Anspruch auf allgemeine Geltung prägte auch die einschlägigen Songtitel: „Heute tanzen alle jungen Leute im Lipsi-Schritt, nur noch im Lipsi-Schritt“ (1958), Lipsi Nr. 1 oder Messe-Lipsi.

 

In den 1980er Jahren hat sich die kulturpolitische Strategie nochmals gewandelt: Nun wurden in der DDR plötzlich Breakdance und Hip-Hop als Symbole westlicher, antikapitalistischer Protestkulturen geduldet und sogar durch Tanzkurse gefördert. Umgekehrt wurden Folklore und Volkstanz, die zur (Selbst-)Repräsentation des sozialistischen Staates inzwischen kaum mehr taugten, als eine subversiv gewordene Bewegung „von unten“ durch die staatlichen Organe misstrauisch beobachtet, im Sommer 1989 – etwa bei einem Festival in der Leipziger Innenstadt – sogar gewaltsam unterdrückt. Als schließlich auf der Berliner Mauer getanzt wurde, schien die körperpolitische Disziplinierung der DDR-Bevölkerung erst einmal überwunden. Nach dem Jubel der Wiedervereinigung folgte im Osten allerdings eine Zeit der Straßenschlachten, in denen Jugendliche sich plötzlich gegenseitig bekämpften und die Aggression gegen alles als fremd Empfundene eskalierte. Dass solche Konflikte mit den Mitteln des Tanzes allein nicht zu lösen sind und eher noch deutlicher hervortreten – dadurch vielleicht aber auch anders wahrgenommen und bearbeitet werden können – ist bereits eine Erfahrung gesamtdeutscher Geschichte und Verantwortung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Patrick Primavesi
Patrick Primavesi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und im Vorstand des Tanz­archivs Leipzig.
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