Patrick Primavesi - 4. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

"Heute tanzen alle jungen Leute …"


Spitzentanz, Staatliches Dorfensemble und der Lipsi im Wettstreit der Systeme

Alles sollte seine Ordnung haben im sozialistischen Staat. So wurde in der DDR auch das Tanzen ideologisch verpflichtet, als kulturelle Praxis, als Kunstform und als Körpertechnik. Bis hin zur Manifestation eines nationalen Volkskörpers bei politischen Veranstaltungen und repräsentativen Bühnenaufführungen unterlagen alle Bereiche von Tanz einer weitgehenden Kontrolle und Instrumentalisierung durch die Kulturpolitik. Während Ballett und Tanztheater auf den zahlreichen Bühnen der Republik als Bestandteil sozialistischer Unterhaltungskultur zu sehen waren, erfüllten Folklore und Massenchoreografien auch explizit ideologische Funktionen im „künstlerischen Volksschaffen“. Schließlich sollte der neu gegründete Staat seine eigenen Formen von Ballett, Volkstanz und Gesellschaftstanz präsentieren und damit eine ideale, sozialistisch geprägte Gemeinschaft verkörpern. Das Bemühen um die staatliche Instrumentalisierung, Steuerung und Überwachung von Tanz umfasste allerdings auch die Dokumentation und Erforschung von Traditionen. So wurde 1957 am Zentralhaus für Volkskunst in Leipzig ein Tanzarchiv gegründet und unter Leitung von Kurt Petermann (1930-1984) schrittweise zum „Tanzarchiv der DDR“ erweitert, dessen Bestände heute in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrt werden.

 

Unmittelbar nach Kriegsende wurde im Tanz zunächst noch angeknüpft an die früheren, oft nur für wenige Monate unterbrochenen Aktivitäten. In der Sowjetischen Besatzungszone lebten viele Vertreterinnen des modernen Ausdruckstanzes, die nach dem Krieg ihre Ausbildungstätigkeit vorerst in privaten Tanzschulen fortsetzten und auch weiterhin auftraten. Mary Wigman unterrichtete und choreografierte noch bis 1949 in Leipzig, Gret Palucca und Dore Hoyer zeigten ihre Choreografien in Dresden, Marianne Vogelsang in Berlin. Henn Haas gründete 1945 sein „Theater des Tanzes“, das als frühe Form des ostdeutschen Tanztheaters gilt. Auch der „rote Tänzer“ Jean Weidt kehrte 1948 aus dem Exil nach Berlin zurück und gründete das Dramatische Ballett der Volksbühne, das 1950 von Aenne Goldschmidt übernommen und später mit einer Ausrichtung auf Volkstanz in das Staatliche Tanzensemble der DDR überführt wurde. In dieser Anfangszeit wurden häufig noch Choreografien der Vorkriegszeit aufgeführt, etwa durch Tatjana Gsovsky, die von 1945 bis 1951 das Ballettensemble der Deutschen Staatsoper in Berlin leitete.

 

Richtlinien für die politische Instrumentalisierung von Tanz waren mit der sozialistischen Auffassung von Kultur vorgegeben. Dabei wurden die Bezüge zur Laienkunstpraxis der Arbeiter- und Bewegungschöre der Weimarer Republik, zum Ausdruckstanz sowie zur Instrumentalisierung von Volkstanz und Massenchoreografien im Nationalsozialismus verschleiert, d. h. im Sinne einer neuen sozialistischen Tanzkultur ideologisch angepasst. Wegweisend dafür war die vom Zentralkomitee der SED im März 1951 beschlossene Zurückdrängung des „Formalismus“ in den Künsten, die vor allem den Ausdruckstanz betraf, der als formalistisch und elitär verurteilt wurde. Im Zeichen des sozialistischen Realismus wurde auch Volkstanz zentral organisiert, wie die Gründung des Staatlichen Dorfensembles der DDR – seit 1972 Staatliches Folklore Ensemble – zeigt, das in Gastspielen weit über die DDR hinaus als neue Volkskunst präsentiert wurde. Für den klassischen Bühnentanz galt das sozialistisch-realistische Handlungsballett als Ideal, mit Themen von der Kollektivierung der Landwirtschaft über die allgemeine Umgestaltung der Produktionsverhältnisse bis hin zur Rassendiskriminierung in den westlichen Industriestaaten oder zu der nuklearen Bedrohung des Weltfriedens. Solche konkreten Inhalte konnten aber kaum ohne Rückgriff auf die Mittel des Ausdruckstanzes zur Darstellung gebracht werden, sodass es im Ballett immer wieder zu Kombinationen aus klassischen und modernen Elementen kam.

 

Die kulturpolitischen Ziele, die im Tanz realisiert werden sollten, erforderten eine besondere, sozialistisch geprägte Tanzausbildung. Mit dem Aufbau von drei zentralen Schulen – Palucca-Schule Dresden 1949, Staatliche Ballettschule Berlin 1951, Fachschule für Tanz in Leipzig 1966 – wurde der moderne Tanz zurückgedrängt. Zumindest Gret Palucca versuchte an ihrer Schule quer zur offiziellen Doktrin den „Neuen Künstlerischen Tanz“ weiter zu führen, wofür sie sich immer wieder zu rechtfertigen hatte. Vorbild für das Ausbildungssystem der Ballettschulen der DDR war jedoch die russische Lehrmethode, in der Weiterentwicklung von Agrippina J. Waganowa. Schon während der Ausbildung wurden die Tanzschüler als Eleven in Bühnenproduktionen eingebunden und nach ihrem Abschluss den Ensembles der Republik zugeteilt. Die virtuosen „Klassiker“ wurden zumeist an die Berliner Staatsoper vermittelt, Tänzer mit Showqualitäten kamen zum Fernsehballett, zum Friedrichstadtpalast, ans Metropoltheater in Berlin, ans Haus der heiteren Muse in Leipzig oder an die Staatsoperette in Dresden. Die anderen wurden in der Provinz verteilt, eine freie Szene im heutigen Sinne gab es nicht. Mit der klassischen, eigentlich feudal geprägten Kunstform des Balletts pflegte die Kulturpolitik der DDR ein glänzendes Aushängeschild. Bei Gastspielen auch im westlichen Ausland, die dem Staat hohe Deviseneinnahmen verschafften, sollten die Tänzer zugleich die Überlegenheit des sozialistischen Systems demonstrieren. Wie bei Spitzenleistungen im Sport befand sich die DDR mit dem Tanz im Wettstreit der Systeme. So prägten die Normierung und Perfektionierung des Körpers, andererseits die Repräsentation des Sozialismus die Praxis. Gastauftritte und Tourneen wurden seit den 1970er Jahren aber auch für Fluchtversuche genutzt, daher zunehmend von der Stasi kontrolliert.

Insgesamt unterscheidet sich die Entwicklung des künstlerischen Tanzes in der DDR durchaus von der in Westdeutschland, wo anknüpfend an den modernen Tanz das Tanztheater von Pina Bausch entstand, mit einer eigenen Arbeitsweise, Ästhetik und Dramaturgie. Tanztheater in der DDR meinte eher Handlungsballett mit einer im Sinne des sozialistischen Realismus verstandenen, allerdings auch auf innere Zustände bezogenen Fabel. Wegweisend dafür war der Choreograf Tom Schilling, der noch von Wigman und Hoyer unterrichtet worden war und ab 1965 das Tanztheater an der von Walter Felsenstein geleiteten Komischen Oper in Berlin etablieren konnte. Daran war auch Jean Weidt beteiligt, mit seiner überwiegend aus Laien bestehenden Gruppe junger Tänzer. Zugleich organisierte Weidt „Die Stunde des Tanzes“ als regelmäßiges Forum für die Arbeiten des Tanznachwuchses. Mit den pädagogischen Impulsen von Palucca entwickelte sich in den 1970er Jahren eine neue Choreografen-Generation, mit Arila Siegert, Dietmar Seyffert, Enno Markwart, Harald Wandtke, Mario Schröder, Irina Pauls, Birgit Scherzer, Stephan Thoss, Silvana Schröder, Gregor Seyffert u. v. m., die noch heute den Bühnentanz in Deutschland mitprägen.

 

In Freizeitgestaltung und Musikgeschmack hatten die DDR-Bürger, trotz oder gerade wegen allzu vieler „verordneter“ Aktivitäten ihre eigenen Präferenzen, wobei die Orientierung am Westen kaum zu vermeiden war. Auch der Gesellschaftstanz wurde in der DDR bald als staatliches Interessengebiet begriffen, was zu Kampagnen gegen „westliche Modetänze“ und zur Erfindung sozialistischer Gegenmodelle führte. Bei der Tanzmusikkonferenz 1959 in Lauchhammer wurde der neue Paartanz „Lipsi“ vorgestellt, den das Leipziger Tanzlehrerpaar Christa und Helmut Seifert als Alternative zu Rock ’n’ Roll und Twist im Staatsauftrag entwickelt hatte. Der Lipsi zeigte, wie im sozialistischen Sinne „richtig“ zu tanzen sei. Bald schon kam es zu Demonstrationen von Jugendlichen, die sich gegen diese Bevormundung im Kampf der Systeme wehrten, der sich dann vor allem im Bau der Mauer manifestierte. Wie sehr der Lipsi-Tanz als eine „reine Propagandasache“, so Hans Bentzien, damals Mitglied der Kulturkommission beim SED-Politbüro, von der Realität entfernt war, veranschaulicht ein Puppentrickfilm von Peter Blümel: „Mr. Brown aus USA“ (1960). Da lernt ein Messegast in Leipzig den Lipsi kennen und bringt ihn mit nach Hause, wo sich die amerikanische Jugend schnell dafür begeistert. Dieser überzogene Anspruch auf allgemeine Geltung prägte auch die einschlägigen Songtitel: „Heute tanzen alle jungen Leute im Lipsi-Schritt, nur noch im Lipsi-Schritt“ (1958), Lipsi Nr. 1 oder Messe-Lipsi.

 

In den 1980er Jahren hat sich die kulturpolitische Strategie nochmals gewandelt: Nun wurden in der DDR plötzlich Breakdance und Hip-Hop als Symbole westlicher, antikapitalistischer Protestkulturen geduldet und sogar durch Tanzkurse gefördert. Umgekehrt wurden Folklore und Volkstanz, die zur (Selbst-)Repräsentation des sozialistischen Staates inzwischen kaum mehr taugten, als eine subversiv gewordene Bewegung „von unten“ durch die staatlichen Organe misstrauisch beobachtet, im Sommer 1989 – etwa bei einem Festival in der Leipziger Innenstadt – sogar gewaltsam unterdrückt. Als schließlich auf der Berliner Mauer getanzt wurde, schien die körperpolitische Disziplinierung der DDR-Bevölkerung erst einmal überwunden. Nach dem Jubel der Wiedervereinigung folgte im Osten allerdings eine Zeit der Straßenschlachten, in denen Jugendliche sich plötzlich gegenseitig bekämpften und die Aggression gegen alles als fremd Empfundene eskalierte. Dass solche Konflikte mit den Mitteln des Tanzes allein nicht zu lösen sind und eher noch deutlicher hervortreten – dadurch vielleicht aber auch anders wahrgenommen und bearbeitet werden können – ist bereits eine Erfahrung gesamtdeutscher Geschichte und Verantwortung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.


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