Glasnost und Perestroika

Gorbatschow schaffte einst den politischen Klimawechsel

 

Um ein solches Zugeständnis zu vermeiden, ignorierte die DDR-Führung in voller Absicht die Leitbegriffe der sowjetischen Reformpolitik. Doch besonders Künstler und Intellektuelle forderten gesellschaftliche Transparenz. Damit verbunden eine allgemeine Öffentlichkeit, die frei diskutiert, dass ein veränderbares, offenes Gesellschaftssystem oberstes Ziel sein muss. Anders gesagt, eine „Übergangsgesellschaft“ nach Volker Braun, in der das Wissen der wenigen und das Verschweigen für die vielen zu Ende geht. Doch die Frage stand im Raum: Übergang wohin? Der Dramatiker Volker Braun schrieb in einer Anmerkung zu seinem Stück „Transit Europa“, das im Frühjahr 1988 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde: „das exil kann nur modell sein für die heutige befindlichkeit, für unser aller leben im übergang: die wir den alten kontinent unserer gefährlichen gewohnheit und anmaßenden wünsche verlassen müssen, ohne doch das neue ufer zu erkennen zwischen uns“.

 

Mit den neuen Schlagworten Glasnost und Perestroika hatten sich in der UdSSR spürbare innerpolitische Veränderungen angekündigt. Die Zustimmung der SED-Führung dazu war jedoch geteilt: Während die Abrüstungsappelle Gorbatschows propagandistisch aufgenommen wurden, ignorierte man die ideologischen und innergesellschaftlichen Beziehungen. Klassenkampf als Mittel zur Erhaltung des Friedens blieb in der DDR weiterhin die prägende Parole.

 

Für Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR war am Umbau der sowjetischen Gesellschaft und ihrem neuen Denken am interessantesten, wie sich das Konzept „Glasnost“ entwickeln würde, in der Hoffnung, die angekündigte Transparenz der gesellschaftlichen Vorgänge würde auch in dem eingemauerten Land Auswirkungen auf die Autonomie der Kunst haben. Die offizielle Kulturpolitik reagierte allerdings mit Vorsicht und Zurückhaltung. Der Slogan „Von der Sowjet­union lernen heißt siegen lernen“ trat deutlich in den Hintergrund. Auch war nicht mehr die Rede davon, dass die Kulturpolitik der Sowjetunion Vorbild und Mentor sei und man verkleinerte Gorbatschows „neues Denken“ zu einer innersowjetischen Angelegenheit. Diese Interpretation war nicht aufrechtzuerhalten. Eine spürbare Folge sowjetischer Glasnost für alle Kulturinteressierten war, dass plötzlich kritische Bücher, Stücke und Filme, die sich mit den Widersprüchen in der Sowjetunion und ebenso mit denen im eigenen Land beschäftigten dem Publikum zugängig wurden. Auch wenn in der DDR seit 1985 keine lineare Entwicklung in Richtung auf mehr Transparenz stattgefunden hatte, waren Anzeichen da, die ermutigten. So wies Christa Wolf im Mai 1987 bei einem Schriftstellergespräch in Berlin darauf hin, dass z. B. 66 Zeilen, die 1983 aus ihren „Kassandra“-Vorlesungen wegzensiert worden waren, inzwischen zu Aussagen und Forderungen der großen Politik erhoben wurden und in den Zeitungen standen. Die Romane von Günter de Bruyn, Volker Braun oder Christoph Hein erreichten leichter die DDR-Öffentlichkeit. Ein deutsch-deutsches Kulturabkommen kam zustande; infolge wechselseitige Theatergastspiele, eine Kooperation der beiden deutschen Nationalbibliotheken Leipzig und Frankfurt am Main, Christa Wolf bekam den Nationalpreis der DDR, 1. Klasse, Günter Grass konnte gedruckt und Samuel Beckett gespielt werden.

 

Doch die gewünschte „weit geöffnete Tür“ blieb angelehnt, wie folgende Geschichte beweist, die Gregor Gysi zu erzählen wusste: Gorbatschow, der sich anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 mit der SED-Führung traf, habe lange über Reformen gesprochen. Die Genossen im Kreis des Politbüros, im Anschluss nach ihrer Meinung dazu gefragt, hätten alle geschwiegen. So hätte Honecker das Wort wieder ergriffen und von einer Reise nach Magnitogorsk berichtet. Dort wären einige der ihn begleitenden Genossen in ein „Magasin“, ein Lebensmittelgeschäft, gegangen. In diesem Geschäft hätte es keinen Zucker gegeben. Das war Honeckers Erwiderung auf Gorbatschows Reformvorschläge. Und im Raum stand wortlos die vernichtende Kritik: Wenn du nicht mal Zucker besorgen kannst, schreibe mir nicht vor, zu welchen Reformen ich mich entschließen muss.

 

Trotzdem wurde paradoxerweise gestattet, dass die ausgesuchten FDJler des Fackelzuges Unter den Linden in Berlin an diesem 40. DDR-Jahrestag hinauf auf die Tribüne, auf der Erich Honecker mit Michail Gorbatschow und anderen Parteichefs stand, „Gorbi, Gorbi“ rufen durften.

 

Dann der Sturz der totalitären kommunistischen Herrschaft in der DDR. Dass er sich gewaltlos ereignete, wird entscheidend auch Gorbatschow zugeschrieben. Die punktuell aufkommende Trauer im Osten Deutschlands um das untergegangene System war wohl nach 1990 die Trauer um das Ende einer Zeit der Bewährung und der Selbstbehauptung, die im Herbst 1989 ihren Höhepunkt hatte.

 

Was in den kommenden Wochen und Monaten geschah, ist umfänglich dokumentiert worden.

 

Der berühmte Satz von Michail Gorbatschow „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ galt dem SED-Regime, dessen Zeit zu Ende gegangen war.

 

In seinem Buch „Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin“ schreibt der gescheiterte Michail Gorbatschow über sein Schicksalsjahr 1991: „Es war bitter, dass die Perestroika auf der Hälfte ihres Weges gestoppt wurde, ja eigentlich sogar am Anfang ihres Weges. Und schon damals hatte ich das Gefühl, dass das Erbe des Totalitarismus in den Traditionen, Köpfen und Sitten äußerst tief verankert war, dass es wohl in allen Poren unseres gesellschaftlichen Organismus sitzt. Daher kam auch die alarmierte Stimmung, die mich damals in all diesen Tagen nicht verlassen hat und die bis heute, 20 Jahre später, nicht verschwunden ist.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019

Regine Möbius
Regine Möbius ist Schriftstellerin.
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