„Die Erinnerungskultur empfinden viele Ostdeutsche als einseitig“

Florentine Nadolni über DDR-Kunstwerk

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ja, wenn wir uns beispielsweise das Design oder die Formgestaltung in der DDR anschauen, wie wir es im Bauhaus-Jahr 2019 gemacht haben, dann zeigen sich sowohl Kontinuitäten in der Gestaltungsauffassung zu denen des Bauhaus oder des Deutschen Werkbunds als auch internationale Tendenzen, die sich weltweit in den 1960er oder 1970er Jahren zeigten. Dass man dabei im Austausch stand mit internationalen Fachkolleginnen, das macht unter anderem die aktuelle Ausstellung „Deutsches Design 1949–1989. Zwei Länder, eine Geschichte“ des Vitra Design Museums in Weil am Rhein sehr schön deutlich. Es lohnt zu schauen, was es für Verbindungen gab. Genauso, ob es bei den einzelnen Künstlern, Grafikern, Gestalterinnen nach der Einheit eine Abkehr gab, eine Kontinuität oder Weiterentwicklung.

 

Geschieht das?

Im Bereich der Kunst haben große internationale renommierte Häuser seit einigen Jahren begonnen, den erstaunlich festgefügten Kanon der Betrachtung der DDR-Kulturgeschichte zu erweitern. Sie stellen die Kunst sowie die Künstlerinnen und Künstler in den Mittelpunkt, nicht Kunstwerke zu Illustration einer Geschichte. Z. B. 2019 in Leipzig die Ausstellung „Point of No Return“, wo wir einige Leihgaben beigesteuert haben. Da ging es auch um Brüche in den 1980er und 1990er Jahren. Erst jetzt erreicht das dadurch auch die entsprechende überregionale Publizität.

 

Wäre es nicht sinnvoller, zumindest einen Teil des Archivs als Dauerleihgaben an Museen zu geben, damit die Werke und Objekte in diesen Kontext gestellt werden können?

Wir sind seit jeher Leihgeber für solche Schauen. Wir sind in engem Austausch mit anderen Häusern. Es ist uns ein großes Anliegen, dass die Kunstwerke und alltagskulturellen Zeugnisse in breite, gegenwartsbezogene und internationale Kontexte eingeordnet werden.

 

Bei aller Vielfalt und internationalen Verbindungen: Was eint Werke von DDR-Künstlern? Was unterscheidet sie von Künstlern aus der alten Bundesrepublik und dem übrigen Westen?

Das ist schwer zu beantworten. Wenn man sich z. B. die Architektur und den Städtebau anschaut: Eisenhüttenstadt, das war gebaute Utopie. Man muss sich dabei die dahinter liegenden Ideale und die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse anschauen. In der DDR waren diese zum einen von einem sozialistischen Gesellschaftsentwurf geprägt und zugleich vom Herrschaftssystem, das von der SED gesteuert wurde. Die Ideale wurden vom Staat ideologisch vereinnahmt, zugleich hatten sie bis 1989 auch eine starke Bindekraft. An ihr musste sich die SED, mussten sich die real existierenden Verhältnisse messen lassen: Wie stand es etwa tatsächlich um die propagierte „Internationale“? Inwiefern wurden Frieden und Freiheit eingelöst?

Die Gestaltung von Gebrauchsgütern war anders als in kapitalistischen Konsumgesellschaften wie der Bundesrepublik. Die DDR konnte sich keinen geplanten Verschleiß leisten. Deshalb sind die Gegenstände der Alltagskultur meist nicht modisch, sondern nachhaltig gestaltet, auf Langlebigkeit. In der Tradition der Moderne, aus den Gegebenheiten einer Gesellschaft mit knappen Ressourcen. Und mit einem Ideal der sozialen Gleichheit, nicht als Statussymbole.

 

Den Kunstwerken und Alltagskultur-Stücken fehlt seit der Einheit dieser gesellschaftliche Bezugsrahmen, er verblasst immer mehr. Hängt sie jetzt in Ihrem Archiv im luftleeren Raum?

Nein. Bei den Dingen des Alltags brachten und bringen die Menschen Beschreibungen mit, wie sie sie verwendet, erworben, wie sie mit ihnen gelebt haben. Diese vielen individuellen Geschichten und Erfahrungen, die an den Dingen heften, gilt es sichtbar zu machen. Die Erinnerungskultur wird von vielen, die im ostdeutschen Kontext gelebt haben und leben, als unbefriedigend, als einseitig empfunden. Für unseren Kunstbestand haben wir zum Glück seit 2019 ein neues Depot, in dem wir die Gemälde, Grafiken und Fotografien nun konservatorisch sachgerecht aufbewahren sowie gut sichtbar hängen können. Im alten Depot standen sie Kopf an Kopf. Da konnte man nur einzelne Stücke herausziehen. Nun sind wir ein offenes Depot, wir machen regelmäßig Führungen, im letzten Jahr trotz der Pandemie-Einschränkungen, allein 80, mit knapp 1.000 Gästen, nicht nur Fachkollegen, sondern ein breites Publikum. Zudem haben wir nun die Möglichkeit, partizipative Projekte zu machen. Wir haben Laien aufgefordert: Wer Lust hat, kann sich aus unserem Bestand eine eigene Ausstellung zusammenstellen. Republikweit haben sich Menschen beworben und zwei Tage lang gesichtet und das kuratiert. So etwas ermöglicht einen neuen Diskurs, nicht nach hinten, sondern nach vorne gerichtet.

 

Gibt es auch Interesse im Westen?

Wenig, aber zunehmend mehr. Erst vergangenes Jahr gab es im Kunstpalast Düsseldorf anlässlich der 30-Jahr-Feier die erste groß wahrgenommene Ausstellung „Utopie und Untergang“ seit der Einheit – eröffnet vom Bundespräsidenten.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Florentine Nadolni & Ludwig Greven
Florentine Nadolni ist Kulturwissenschaftlerin und Soziologin. Sie leitet das Kunstarchiv Beeskow und das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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