Das wahre Gesicht

Kostüme und Masken in Fastnacht und Karneval

 

Diese lächelnden Larven hatten ihren Ursprung offenbar in Italien, von wo sie ihren Weg nach Norden fanden. In der Malerei der Toskana sind sie bereits kurz vor 1500 nachweisbar und haben in der italienischen Fastnachtstradition z. B. in Oristano auf Sardinien ihr Aussehen bis in die Gegenwart nicht verändert. Überhaupt erlebte die Fastnacht nördlich der Alpen mit der Zeit eine starke Italianisierungswelle, die ihren Höhepunkt im 17. und frühen 18. Jahrhundert erreichte. Da hielten im deutschen Sprachraum reihenweise Figuren der Commedia dell’Arte Einzug ins fastnächtliche Geschehen. Arlecchino, Pulcinella, Bajazzo, Domino und andere wurden auch im Norden populär, bis man schließlich sogar das Fest selbst nicht mehr Fastnacht oder Fastelovend nannte, sondern es italianisierend als »Carneval« zu bezeichnen begann. Und nicht zuletzt bekam im Zuge dieser Entwicklung auch erst die Gesichtsvermummung als solche ihren heutigen Namen. Während man vorher im Rheinland bei Vollmaskierung nur vom „Mommen“, dem sich Vermummen, und im Süden vom „Verbutzen“, von sich verputzen bzw. unkenntlich machen, gesprochen hatte, setzten sich im 17. Jahrhundert die Begriffe „masquera“ bzw. „mascera“ und „larva“ durch, vereinzelt auch „schema“, was in Teilen Tirols und Süddeutschlands zu „Scheme“, einem weiteren Synonym für Maske wurde. Bis dahin hatte es im Deutschen hierfür keinen Begriff gegeben.

 

Prominentester Vertreter der aus der Commedia dell’Arte übernommenen Figuren war zweifellos der Arlecchino mit seinem zunächst unregelmäßigen Flickengewand, das später zum regelmäßigen Rautenkostüm wurde. In der Nachfolge des Harlekins stehen in Südwestdeutschland die dort von vielen Traditionsfiguren getragenen charakteristischen Flickenkleider, die dialektal „Fleckle“, „Spättle“ oder „Blätzle“ heißen; und im Rheinland lebt derselbe Typus im „Lappenclown“ fort. Ebenfalls vom Harlekin her kommen letztlich auch die figürlichen Ornamentierungen närrischer Gewänder, entweder durch Applikationen oder Malereien, wovon die aufwändig bemalten oder bestickten »Weißnarren« des schwäbisch-alemannischen Raums zeugen. Die Erklärung der einzelnen Narrenattribute vorwiegend des Südens, eben der Schellen, der Fuchsschwänze, der Hahnenkämme, der ledernen Würste, der Schweinsblasen und zuweilen auch des Spiegels würde im vorliegenden Rahmen zu weit führen. Nur so viel sei gesagt: Keines davon ist zufällig, sondern jedes hat eine zeichenhafte Bedeutung.

 

Bei aller Feinsinnigkeit der Ausstattung der Fastnachtsfiguren und der Ausgestaltung ihrer Kostüme, die im Barock nochmals eine Blüte erlebte, war die vorwiegend von den unverheirateten Handwerksgesellen getragene Straßenfastnacht voller Grob- und Derbheiten. Dies führte in der Aufklärung dazu, dass der alte Mummenschanz im Rheinland ebenso wie im Südwesten als nicht mehr zeitgemäß und gesitteter Bürger nicht würdig gesehen wurde. An der Wende zum 19. Jahrhundert standen daher die fastnächtlichen Aktivitäten, soweit sie nicht wie in evangelischen Gebieten durch den Wegfall der Fastenzeit ohnedies erloschen waren, allenthalben kurz vor dem Aus. Die politischen Veränderungen der napoleonischen Zeit, die territorialen Veränderungen und die neuen Stadt- und Landesherren taten ein Übriges, sodass es im Rheinland zu massiven Restriktionen, in Baden und Württemberg 1809 sogar zu Generalverboten aus Karlsruhe und Stuttgart kam.

 

Die Rettung des Brauchkomplexes Fastnacht vor seinem völligen Untergang ging dann wesentlich von Köln aus. Dort wurde 1823 eine ganz neue, auch von der inzwischen preußischen Obrigkeit tolerierte Festpraxis der tollen Tage kreiert, deren Initiatoren dem gehobenen Bürgertum angehörten und bei deren Premiere der „Held Carneval“ in einem prächtigen Defilee in die Stadt einzog, um anschließend mit der Prinzessin Venezia verheiratet zu werden. Hinzu kam in Köln die Wiederauferstehung der einstigen Stadtsoldaten, der Funken, als friedlich mit Gewehrattrappen ausgestatteten Umzugsteilnehmern in den alten reichsstädtischen Farben rot und weiß, die dem Ganzen noch einen nostalgisch-militärischen Akzent verliehen. Das war der Beginn der fastnächtlichen Garden und Korps und vor allem die Geburtsstunde des Rheinischen Karnevals.

 

Das Kölner Beispiel fand weithin Anklang. Rasch griffen es andere Städte am Nieder- und Mittelrhein auf: 1824 Koblenz, 1825 Düsseldorf, 1826 Bonn, 1827 Düren, 1829 Aachen, 1833 Bingen und 1837 Mainz. Nicht zuletzt aber wirkte die Kölner Reform auch bis nach Südwestdeutschland, wo spätestens ab den 1840er Jahren ebenfalls fast überall romantisch veredelter Karneval nach rheinischem Vorbild mit Themenumzügen und Motivwagen gefeiert wurde. Erst kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert kehrte man im Südwesten nach und nach zu den früheren vorromantischen Formen der Fastnacht zurück. Schließlich dominierten im schwäbisch-alemannischen Raum wieder die alten Maskenfiguren, während das Rheinland bei der neueren Festpraxis des Karnevals blieb.

 

Erst seit dieser Zeit gibt es in Deutschland zwei verschiedene Arten, die närrischen Tage zu begehen: einerseits Karneval und andererseits Fastnacht. Für die Maskierungen und Verkleidungen bedeutete dies, dass in der karnevalesken Festvariante bis heute Kostüme und Uniformen das Bild beherrschen, deren Träger kenntlich bleiben, ja dass im Grunde bereits eine rote Pappnase genügt, um als Jeck zu gelten, während in der reaktivierten Tradition der Fastnacht des Südwestens die Vollvermummung mit Gesichtsmaske vorherrscht, die für völlige Anonymität der Akteure sorgt und so die Möglichkeit ganz ungewöhnlicher Kommunikationssituationen schafft. Je nach Ort und Region heißt das asymmetrische Gespräch von Maskierten mit Unmaskierten dort: strählen, welschen, schnurren, aufsagen oder intrigieren. Ein reizvolles Erlebnisspektrum für die Partizipanten bieten letztlich sowohl das Verkleiden als auch das Vermummen – jedes auf seine Weise.

 

Am Ende teilen vermutlich alle Aktiven des Karnevals wie der Fastnacht mehr oder weniger dieselbe Erfahrung: Wer beim Anbruch des Aschermittwochs als Narr seine Maske ablegt oder sich als Jeck abschminkt und Kostüm, Kappe oder Uniform wegräumt, merkt bei der Rückkehr in den Alltag mit einer gewissen Wehmut, dass ab jetzt die eigene Rolle nicht mehr frei wählbar ist, sondern dass sie nun wieder permanent ganz bestimmten Erwartungen entsprechen muss. Und da mag zumindest manche Karnevalisten und Fastnachter die Frage beschleichen, ob es nicht eben der Alltag sei, in dem wir die undurchdringlichsten Masken tragen, und ob wir vielleicht nur einziges Mal im Jahr unser wahres Gesicht zeigen, uns demaskieren und wir selber sein dürfen, nämlich als Masken- und Kostümträger während der tollen Tage.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Werner Mezger
Werner Mezger ist Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
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