Das wahre Gesicht

Kostüme und Masken in Fastnacht und Karneval

Das wohl größte Faszinosum von Fastnacht und Karneval ist das Spiel der Teilnehmenden mit ihrer Identität. Es geschieht in zwei Formen: entweder als partielle Verwandlung durch Kostümierung und Schminken bei noch erhaltener Kenntlichkeit wie etwa im Rheinland oder als gänzliches Verbergen der wahren Persönlichkeit durch Vermummung und Gesichtsmaskierung wie im südwestdeutschen Raum. Beides gehörte nicht genuin zu den tollen Tagen. Deren einziger Zweck war zunächst ein rein ökonomischer und bestand nur im Verzehr der in der Fastenzeit verbotenen Speisen am Vorabend des Aschermittwochs. Aus der Geselligkeit der hierzu veranstalteten Gelage gingen freilich bald weitere Festelemente hervor: Musik, Tanz, komische Wettspiele oder auch ritterliche Turniere, jedoch bis ins späte 14. Jahrhundert so gut wie noch keine Verkleidungen.

 

Erst als die Theologen, vorwiegend Franziskaner und Dominikaner, im Lauf des 15. Jahrhunderts in ihren Predigten Fastnacht und Fastenzeit vermehrt kontrastiv und moralisierend zu bewerten begannen, indem sie das Fasten analog zur Zweistaatenlehre des heiligen Augustinus als Abbild des „Gottesstaates“ deuteten und demgegenüber die Fastnacht zu einer Inszenierung des „Teufelsstaates“ erklärten, regte diese Interpretation offenbar zur theatralischen Bestätigung an: Zeitlich exakt zusammenfallend mit der „Verteufelung“ der Fastnacht von den Kanzeln herunter tauchten im fastnächtlichen Geschehen die ersten Maskengestalten auf – und zwar folgerichtig Teufel und Dämonen.

 

Die Requisiten hierfür stammten interessanterweise häufig aus dem Prozessionswesen, weil beispielsweise urbane Fronleichnamsumgänge im Spätmittelalter oft mobile geistliche Schauspiele waren, bei denen das ganze Spektrum heilsgeschichtlicher Gestalten von Engeln und Heiligen bis hinunter zu den Schreckwesen der Hölle auftrat. Einmal im Jahr durften die diabolischen Vermummungen aus dem Kostümfundus der Kirchen entliehen und verselbständigt getragen werden: in der Fastnacht. Die Belege hierfür reichen von Überlingen am Bodensee, wo ein solcher Ausleihvorgang der „Tewfelshäser“, der Teufelskleider, für 1499 dokumentiert ist, bis ins vorreformatorische Braunschweig, wo vor Aschermittwoch scharenweise „Schodüfel“, also Schauteufel, herumliefen.

 

Als Fastnachtsgestalten ohne Gesichtsvermummung mischten sich unter die Teufel nach und nach auch unbeholfene Bauernfiguren, die von den Städtern als Tölpel, aus niederdeutsch „Dörper“ für Dörfler, verlacht und ebenfalls als nicht als nach dem Bild Gottes geschaffene Wesen gesehen wurden. Diesem Typus des komischen ländlichen Grobians entsprach im Englischen übrigens der Clown, von lateinisch „Colonus“, dem Bauer.

 

Und schließlich kam als wohl markanteste Gestalt noch der Narr hinzu, gleichermaßen unverlarvt, aber in spezifischer Tracht mit Eselsohrenkappe, Zaddeln und Schellen. Durch Sebastian Brants Bestseller „Das Narrenschiff“ von 1494 wurde er zur Schlüsselfigur einer ganzen Epoche, deren Krisen und Transformationsprozesse Zeitkritiker eben als epidemisch um sich greifende Narrheit deuteten. Der Narr löste denn auch im fastnächtlichen Kontext den Teufel zahlenmäßig ab und bestimmte fortan das Bild der tollen Tage. Sprachlich lebt seine Dominanz bis heute weiter, indem die Protagonisten der Fastnacht im Rheinland immer noch pauschal mit dem niederdeutschen Komplementärbegriff „Geck“ für „Narr“ als „Jecken“ und weiter südlich nach wie vor generalisierend als „Narren“ bezeichnet werden.

 

In der spätmittelalterlichen Deutung wurde der Narr keineswegs bloß als Spaßmacher gesehen, sondern er hatte immer auch etwas Apokalyptisches an sich. Sein Bild war durch illustrierte Psalmenhandschriften geformt worden, wo er den Ignoranten Gottes repräsentierte und damit als dem ewigen Tod verfallen galt. Das rückte ihn nicht nur wieder in die Nähe des Teufels, an dessen Stelle er in der Fastnacht vermehrt trat, sondern brachte ihn vor allem sehr eng mit Tod und Vergänglichkeit in Verbindung – bis hin zu der Tatsache, dass die Figuren Narr und Tod in der bildenden Kunst zeitenweise sogar austauschbar wurden. Und eben diese immanente Vergänglichkeitsbotschaft des Narren diente in der Dramaturgie der Fastnacht zugleich als Vorverweis auf das »Memento mori« des Aschermittwochs: eine zutiefst stringente Symbolik also.

 

Während der Grundtypus des Narren in der Fastnacht zunächst unmaskiert und nur mit Eselsohren- und Schellenkostüm auftrat, kamen bei den Gesichtsvermummungen neben den frühen Teufels- und Schreckmasken bald auch betont schöne, anmutig lächelnde und feminin wirkende Larven auf. Diese aber bildeten nur scheinbar einen Kontrast zu den Teufeln, denn sie dienten in ihrer Lieblichkeit als Sinnbilder der Verführung, hinter denen wiederum nur das Böse seine wahre Fratze verbarg. Sehr eindrucksvoll belegt dies etwa ein Gemälde des Münchner Stadtmalers Hans Mielich aus der Zeit um 1540, das den auferstehenden Christus zeigt, der über Tod und Teufel triumphiert. Dort hält der in den Staub getretene Teufel eine Glattlarve in der Hand, wie sie noch heute mit genau denselben Zügen in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht getragen wird.

 

Diese lächelnden Larven hatten ihren Ursprung offenbar in Italien, von wo sie ihren Weg nach Norden fanden. In der Malerei der Toskana sind sie bereits kurz vor 1500 nachweisbar und haben in der italienischen Fastnachtstradition z. B. in Oristano auf Sardinien ihr Aussehen bis in die Gegenwart nicht verändert. Überhaupt erlebte die Fastnacht nördlich der Alpen mit der Zeit eine starke Italianisierungswelle, die ihren Höhepunkt im 17. und frühen 18. Jahrhundert erreichte. Da hielten im deutschen Sprachraum reihenweise Figuren der Commedia dell’Arte Einzug ins fastnächtliche Geschehen. Arlecchino, Pulcinella, Bajazzo, Domino und andere wurden auch im Norden populär, bis man schließlich sogar das Fest selbst nicht mehr Fastnacht oder Fastelovend nannte, sondern es italianisierend als »Carneval« zu bezeichnen begann. Und nicht zuletzt bekam im Zuge dieser Entwicklung auch erst die Gesichtsvermummung als solche ihren heutigen Namen. Während man vorher im Rheinland bei Vollmaskierung nur vom „Mommen“, dem sich Vermummen, und im Süden vom „Verbutzen“, von sich verputzen bzw. unkenntlich machen, gesprochen hatte, setzten sich im 17. Jahrhundert die Begriffe „masquera“ bzw. „mascera“ und „larva“ durch, vereinzelt auch „schema“, was in Teilen Tirols und Süddeutschlands zu „Scheme“, einem weiteren Synonym für Maske wurde. Bis dahin hatte es im Deutschen hierfür keinen Begriff gegeben.

 

Prominentester Vertreter der aus der Commedia dell’Arte übernommenen Figuren war zweifellos der Arlecchino mit seinem zunächst unregelmäßigen Flickengewand, das später zum regelmäßigen Rautenkostüm wurde. In der Nachfolge des Harlekins stehen in Südwestdeutschland die dort von vielen Traditionsfiguren getragenen charakteristischen Flickenkleider, die dialektal „Fleckle“, „Spättle“ oder „Blätzle“ heißen; und im Rheinland lebt derselbe Typus im „Lappenclown“ fort. Ebenfalls vom Harlekin her kommen letztlich auch die figürlichen Ornamentierungen närrischer Gewänder, entweder durch Applikationen oder Malereien, wovon die aufwändig bemalten oder bestickten »Weißnarren« des schwäbisch-alemannischen Raums zeugen. Die Erklärung der einzelnen Narrenattribute vorwiegend des Südens, eben der Schellen, der Fuchsschwänze, der Hahnenkämme, der ledernen Würste, der Schweinsblasen und zuweilen auch des Spiegels würde im vorliegenden Rahmen zu weit führen. Nur so viel sei gesagt: Keines davon ist zufällig, sondern jedes hat eine zeichenhafte Bedeutung.

 

Bei aller Feinsinnigkeit der Ausstattung der Fastnachtsfiguren und der Ausgestaltung ihrer Kostüme, die im Barock nochmals eine Blüte erlebte, war die vorwiegend von den unverheirateten Handwerksgesellen getragene Straßenfastnacht voller Grob- und Derbheiten. Dies führte in der Aufklärung dazu, dass der alte Mummenschanz im Rheinland ebenso wie im Südwesten als nicht mehr zeitgemäß und gesitteter Bürger nicht würdig gesehen wurde. An der Wende zum 19. Jahrhundert standen daher die fastnächtlichen Aktivitäten, soweit sie nicht wie in evangelischen Gebieten durch den Wegfall der Fastenzeit ohnedies erloschen waren, allenthalben kurz vor dem Aus. Die politischen Veränderungen der napoleonischen Zeit, die territorialen Veränderungen und die neuen Stadt- und Landesherren taten ein Übriges, sodass es im Rheinland zu massiven Restriktionen, in Baden und Württemberg 1809 sogar zu Generalverboten aus Karlsruhe und Stuttgart kam.

 

Die Rettung des Brauchkomplexes Fastnacht vor seinem völligen Untergang ging dann wesentlich von Köln aus. Dort wurde 1823 eine ganz neue, auch von der inzwischen preußischen Obrigkeit tolerierte Festpraxis der tollen Tage kreiert, deren Initiatoren dem gehobenen Bürgertum angehörten und bei deren Premiere der „Held Carneval“ in einem prächtigen Defilee in die Stadt einzog, um anschließend mit der Prinzessin Venezia verheiratet zu werden. Hinzu kam in Köln die Wiederauferstehung der einstigen Stadtsoldaten, der Funken, als friedlich mit Gewehrattrappen ausgestatteten Umzugsteilnehmern in den alten reichsstädtischen Farben rot und weiß, die dem Ganzen noch einen nostalgisch-militärischen Akzent verliehen. Das war der Beginn der fastnächtlichen Garden und Korps und vor allem die Geburtsstunde des Rheinischen Karnevals.

 

Das Kölner Beispiel fand weithin Anklang. Rasch griffen es andere Städte am Nieder- und Mittelrhein auf: 1824 Koblenz, 1825 Düsseldorf, 1826 Bonn, 1827 Düren, 1829 Aachen, 1833 Bingen und 1837 Mainz. Nicht zuletzt aber wirkte die Kölner Reform auch bis nach Südwestdeutschland, wo spätestens ab den 1840er Jahren ebenfalls fast überall romantisch veredelter Karneval nach rheinischem Vorbild mit Themenumzügen und Motivwagen gefeiert wurde. Erst kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert kehrte man im Südwesten nach und nach zu den früheren vorromantischen Formen der Fastnacht zurück. Schließlich dominierten im schwäbisch-alemannischen Raum wieder die alten Maskenfiguren, während das Rheinland bei der neueren Festpraxis des Karnevals blieb.

 

Erst seit dieser Zeit gibt es in Deutschland zwei verschiedene Arten, die närrischen Tage zu begehen: einerseits Karneval und andererseits Fastnacht. Für die Maskierungen und Verkleidungen bedeutete dies, dass in der karnevalesken Festvariante bis heute Kostüme und Uniformen das Bild beherrschen, deren Träger kenntlich bleiben, ja dass im Grunde bereits eine rote Pappnase genügt, um als Jeck zu gelten, während in der reaktivierten Tradition der Fastnacht des Südwestens die Vollvermummung mit Gesichtsmaske vorherrscht, die für völlige Anonymität der Akteure sorgt und so die Möglichkeit ganz ungewöhnlicher Kommunikationssituationen schafft. Je nach Ort und Region heißt das asymmetrische Gespräch von Maskierten mit Unmaskierten dort: strählen, welschen, schnurren, aufsagen oder intrigieren. Ein reizvolles Erlebnisspektrum für die Partizipanten bieten letztlich sowohl das Verkleiden als auch das Vermummen – jedes auf seine Weise.

 

Am Ende teilen vermutlich alle Aktiven des Karnevals wie der Fastnacht mehr oder weniger dieselbe Erfahrung: Wer beim Anbruch des Aschermittwochs als Narr seine Maske ablegt oder sich als Jeck abschminkt und Kostüm, Kappe oder Uniform wegräumt, merkt bei der Rückkehr in den Alltag mit einer gewissen Wehmut, dass ab jetzt die eigene Rolle nicht mehr frei wählbar ist, sondern dass sie nun wieder permanent ganz bestimmten Erwartungen entsprechen muss. Und da mag zumindest manche Karnevalisten und Fastnachter die Frage beschleichen, ob es nicht eben der Alltag sei, in dem wir die undurchdringlichsten Masken tragen, und ob wir vielleicht nur einziges Mal im Jahr unser wahres Gesicht zeigen, uns demaskieren und wir selber sein dürfen, nämlich als Masken- und Kostümträger während der tollen Tage.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Werner Mezger
Werner Mezger ist Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
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