Industriekultur 4.0

Leitbilder müssen auch Modernität und Zukunft widerspiegeln

Im Essener Norden schlägt das Herz der Industriekultur: Seit über 180 Jahren ist das UNESCO-Welterbe Zollverein eine markante Landmarke der Region und heute das international sichtbare Symbol für die Bedeutung, die der Steinkohlenbergbau für die Geschichte der ganzen Bundesrepublik hatte. Bis zum 21. Dezember 2018. An diesem historischen, mancher würde sagen schwarzen Tag, endete die Geschichte eines Industriezweigs, der nach dem Zweiten Weltkrieg einmal über 600.000 Menschen beschäftigte und elementarer Bestandteil des deutschen Wirtschaftswunders war.

 

Auch für die RAG-Stiftung begann damit ein neues Kapitel. 2007 war sie mit zwei Zielen gegründet worden: Zum einen sollte sie den Steinkohlenbergbau sozialverträglich abwickeln, zum anderen nach Fördereinstellung der letzten Bergwerke die dauerhaften Aufgaben des Nachbergbaus – also Grubenwasserhaltung, Poldermaßnahmen und Grundwasserreinigung – finanzieren. Die Herausforderung, den Großteil der Folgekosten einer ganzen Industriebranche zu übernehmen, ist einmalig in der Wirtschaftsgeschichte. Während die erste der beiden Aufgaben bereits im Jahr 2018 erfolgreich abgeschlossen war, gilt es mit dem neuen Kapitel der Nachbergbauära die zweite zu meistern. Genau auf diese Zukunft hat sich die RAG-Stiftung langfristig und systematisch vorbereitet. Mit einer sicheren und gleichwohl rentablen Kapitalanlage baut sie kontinuierlich ihr Vermögen auf und erwirtschaftet daraus die notwendigen Erträge. Und wo wäre das Management der Ewigkeitsaufgaben besser aufgehoben als auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei des Welterbes Zollverein in Essen? Genau hier steht seit 2017 die neue gemeinsame Verwaltungszentrale von RAG-Stiftung und RAG Aktiengesellschaft.

 

Dass die RAG-Stiftung ein Monument der Industriekultur für ihre Heimat

wählte, ist ein Bekenntnis zu unseren Wurzeln und zur Region, die stets gleichsam kulturell wie sozial vom Steinkohlenbergbau geprägt waren. Um dieses Erbe in die Zukunft zu tragen und nachhaltige Impulse für die Transformation an Ruhr, Saar und in Ibbenbüren zu setzen, fördert die RAG-Stiftung auch zahlreiche Projekte aus den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur, die im Zusammenhang mit dem deutschen Steinkohlenbergbau stehen. Ein Dreiklang, der nach unserem Verständnis von Industriekultur als Ganzes betrachtet werden muss.

 

Die Bergwerke an Ruhr, Saar und Ibbenbüren waren in jüngster Vergangenheit immer auch bedeutende Bildungs- und Ausbildungsstätten. Gerade Jugendliche mit weniger guten Startvoraussetzungen fanden hier einen Einstieg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Eine gute Tradition, die heute Förderschwerpunkt der RAG-Stiftung ist. Alle Projekte sind langfristig und nachhaltig angelegt. Das Angebot deckt die gesamte Bildungskette ab – von der frühkindlichen Bildung in Kindertagesstätten bis zum Übergang in Ausbildung oder Studium – und gibt damit Antworten auf bildungspolitische Herausforderungen.

 

Darüber hinaus unterstützt die RAG-Stiftung auch zentrale wissenschaftliche Institutionen. Das von der Stiftung initiierte Forschungszentrum Nachbergbau der Technischen Hochschule Georg Agricola betreibt beispielsweise Spitzenforschung rund um Fragen zur Grubenwasserhaltung und Grundwasserreinigung. Das Deutsche Bergbau-Museum Bochum – Leibniz-Forschungsmuseum für Georessourcen ist das weltweit größte Bergbaumuseum und schafft die Verbindung zwischen einem leistungsstarken Forschungsinstitut und lebendigen Museum.

 

Mit thematischem Blick auf die Kulturförderung setzt sich die Stiftung zum einem das Ziel, bergmännische Traditionen zu pflegen. So fördert sie seit Jahren auch die Knappenvereine, Bergmannstage oder die bergmännischen Klangkörper. Auch größere Kulturveranstaltungen mit überregionaler Strahlkraft nimmt die Stiftung in den Blick. Zu nennen sind hier beispielsweise die Ruhrfestspiele Recklinghausen oder die ExtraSchicht. Zum anderen trägt die RAG-Stiftung aber auch dazu bei, ausgewählte Industriedenkmale des Bergbaus in Nordrhein-Westfalen (NRW) und im Saarland zu erhalten. Den Leitrahmen dafür bildet die Erkenntnis der RAG-Stiftung-Zukunftsstudie, dass „die Strahlkraft einer Region nur durch die Verbindung von Tradition und Moderne entsteht“. Um hier ein nachhaltiges und kosteneffizientes Handeln zu gewährleisten, setzt die Stiftung, in Kooperation mit Vertretern beider Bundesländer, eine Denkmalstrategie um, bei der neueste wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen. Wenn es zu entscheiden gilt, ob ein Industriedenkmal es „wert“ ist, erhalten zu bleiben, sind immer langfristig angelegte Konzepte der Denkmalpflege erforderlich. Und auch die Anerkennung als nationales Kulturgut wäre sinnvoll.

 

Die vom Land NRW und der RAG Aktiengesellschaft gegründete Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur sichert und erhält zwölf ausgewählte denkmalgeschützte Industrieanlagen im Ruhrgebiet, darunter die Kokerei Hansa in Dortmund sowie die Zechen Pattberg in Moers und Schlägel & Eisen in Herten. Die RAG-Stiftung fördert – in enger Abstimmung mit dem NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung – die Institution bereits seit dem Jahr 2010. Für das Jahr 2020 steht hierfür ein höherer sechsstelliger Betrag zur Verfügung. Insgesamt beliefen sich die Förderungen bis heute auf rund 4,4 Millionen Euro.

 

Das Engagement der RAG-Stiftung soll dazu beitragen, dass auch kommende Generationen die Bergbautradition ihrer Heimat und die Werte der Bergleute erfahren. Aber nicht jedes Bauwerk kann für die Ewigkeit erhalten bleiben. Denn es braucht gleichzeitig auch Raum für Leitbilder, die auch Modernität und Zukunft widerspiegeln. Neben allen Traditionen prägte die Industrieregionen ein rasanter Strukturwandel, der vor allem die Menschen, aber auch die Wirtschaft immer wieder vor neue Herausforderungen stellte. Während die Städte im Osten aufholten, kämpfte der Westen mit Problemen. Deutschland, insbesondere das Ruhrgebiet, hat den Strukturwandel in beispielhafter Weise gemeistert und aus den Orten der Industriekultur modellhaft für Europa und im internationalen Zusammenhang Neues gestaltet. Und doch stellt der Rückzug von Kohle und Stahl und der damit bedingte Wegfall von Arbeits- und Ausbildungsplätzen noch immer eine große Herausforderung für die Menschen dar.

 

Industriedenkmale sind ein inspirierender Ort für Künstler, Events und Kreativwirtschaft, aber sie müssen noch auf mehr einzahlen: Sie müssen Raum geben für Arbeitsplätze, lebenswerte Wohnquartiere und engagierte Gründer. Hier den Spagat zu schaffen, muss erklärtes Ziel der Industriekultur sein. Das genau ist Industriekultur 4.0. Historisch gesehen, war das Ruhrgebiet schon immer ein Gründerstandort. Doch wurden die Erfolgsgeschichten bisher von großen Unternehmen der Montanindustrie geschrieben. Auch hier setzt das Engagement der RAG-Stiftung an: Wir wollen die Gründerszene stärken und beflügeln, Ideenfinder dazu ermutigen und befähigen, ihre eigenen Unternehmen zu gründen. Dies unterstützen wir mit Projekten wie der Gründerallianz, die in Kooperation mit dem Initiativkreis Ruhr entstanden ist – und die ebenfalls als Heimat das UNESCO-Welterbe Zollverein wählte. Auch das Essener Colosseum, das wir jüngst erworben haben, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Baustein. Die denkmalgeschützte, ehemalige Krupp-Werkshalle soll in ihren historischen Wänden mit zukunftsgewandtem Leben gefüllt werden. Und wenn wir es schaffen, die historische Industriekultur zu bewahren, ihre Stätten mit neuem Leben zu füllen und zukunftsfähig zu machen, dann werden wir auch die Transformation der Region erfolgreich gestalten.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Bernd Tönjes
Bernd Tönjes ist Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung.
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