Der Gestaltungswille des Industriezeitalters

Die Zeche Zollverein

Die ehemalige Zeche Zollverein mit der anschließenden Kokerei im Essener Norden ist ein herausragendes Beispiel der Industriekultur. Bereits 1848 zu Beginn der Industrialisierung von dem Industriepionier Franz Haniel abgeteuft, spiegelt die Zeche in ihren verschiedenen Bauphasen das gesamte Industriezeitalter und erfuhr in den späten 1920er Jahren mit dem von Fritz Schupp und Martin Kremmer gebauten Schacht XII, einem Meisterwerk der neusachlichen Industriearchitektur, ihren Höhepunkt.

 

Ihre Geschichte als Industriedenkmal wiederum beginnt mit ihrer Schließung im Jahr 1986, in dem sie als letzte Zeche in Essen, der ehemals größten Bergbaustadt in Europa, den Betrieb einstellte. Dabei ist sie in gewisser Weise ein Kind der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, die zwischen 1989 und 1999 das montanindustriell geprägte nördliche Ruhrgebiet erneuerte und dabei den industriellen Hinterlassenschaften eine neue, dem internationalen Zeitgeist entsprechende Bedeutung zukommen ließ.

 

Anstelle des Abrisses der massenhaft vorhandenen Gebäude des Industriezeitalters, der seit Beginn der Strukturkrise der Montanindustrie in den späten 1970er und 1980er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, setzte sie nun auf den weitgehenden Erhalt und die Umnutzung dieser Relikte der Industrialisierung und schuf damit ein europaweit – vielleicht weltweit – einzigartiges Inventar von mehreren Hundert historischen Gebäuden, Anlagen und Sites, von denen der Gasometer Oberhausen, der Landschaftspark Duisburg-Nord, die Jahrhunderthalle in Bochum, das Dortmunder U und die Zeche Zollverein in Essen nur die spektakulärsten sind. Sie werden in der vom Regionalverband Ruhr betriebenen Route der Industriekultur zusammengefasst und von den Industriemuseen der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe interpretiert und in ihrer historischen Bedeutung vermittelt. Zusammen bilden sie das identitäre und touristische Alleinstellungsmerkmal des Ruhrgebietes, der ehemals größten Industrieregion in Europa.

 

In diesem Prozess spielte von Anfang an die Zeche Zollverein eine entscheidende Rolle – schon durch ihre schiere Größe, ihre architektonische Qualität und ihre funktionale Bedeutung. Insofern war es folgerichtig, dass Zollverein im Jahr 2000 zu einer der ersten industriellen Welterbestätten der Menschheit erklärt wurde, die auch im europäischen Maßstab auf der Europäischen Route der Industriekultur (ERIH) eine wichtige Rolle spielt.

 

Dabei ist das UNESCO-Welterebe Zollverein im Unterschied zu fast allen anderen Welterbestätten ein besonderes Denkmal: Die Pyramiden von Gizeh waren schon bei ihrer Entstehung vor 3.000 Jahren Grabstätten für die ägyptischen Pharaonen, sie sind es heute noch. Und der Kölner Dom wurde im Mittelalter als Kirche erbaut, als solche im 19. Jahrhundert fertig gestellt und ist heute noch eine Kirche.

 

Bei Zollverein verhält es sich anders. Die Zeche Zollverein war einstmals die größte und förderstärkste Tiefbauzeche der Welt, bei ihrer Schließung Ort der Niederlage und Symbol der Krise des Steinkohlebergbaus und der Montanindustrie. Heute ist sie ein Zukunftsstandort mit den Schwerpunkten Geschichte, Architektur, Kunst, Design, Kultur, Bildung und Medien.
Darüber hinaus ist Zollverein inzwischen ein bedeutender Wirtschaftsstandort mit knapp 2.000 Beschäftigten – das sind mehr als zur Zeit des Bergbaus über und unter Tage. Als Wirtschaftsstandort versammelt Zollverein bedeutende Konzerne wie die RAG und die RAG-Stiftung oder Niederlassungen von Firmen wie Haniel und Accenture, aber auch Start-ups sowie gastronomische Betriebe und Eventlocations wie das Casino Zollverein, den Erich Brost-Saal auf dem Dach der Kohlenwäsche und die Grand Hall auf der Kokerei Zollverein.

 

Als Kultur- und Wissenschaftsstandort beherbergt Zollverein die Folkwang-Universität der Künste, mit den Schwerpunkten Fotografie und Design, das Red Dot Design Zentrum, das den weltweit bedeutendsten Designpreis, den Red Dot Award, verleiht, das Choreographische Zentrum PACT Zollverein und das Ruhr Museum, das große Regionalmuseum des Ruhrgebietes. Und als internationaler Veranstaltungsort finden auf Zollverein jährlich über 100 Kongresse und Großveranstaltungen statt, darunter so renommierte Kulturveranstaltungen wie die lit.RUHR, die Ruhrtriennale, die Zollverein Konzerte und die contemporary art Ruhr.

 

Insgesamt begrüßt Zollverein pro Jahr ca. 1,5 Millionen Gäste, davon fast eine halbe Million zahlende Besucher, die die zahlreichen musealen und Vermittlungsangebote wahrnehmen, darunter Führungen über die Zeche und die Kokerei Zollverein, aber auch durch die Dauer- und Sonderausstellungen des Ruhr Museums, des Red Dot Design Zentrums und der Stiftung Zollverein. Und das ist erst der Anfang. Das Land NRW will Zollverein im Rahmen der Ruhrkonferenz zum internationalen Standort für digitale Kunst sowie analoge und digitale Fotografie ausbauen. Vor einigen Wochen hat die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien berufene Expertenkommission Zollverein als Standort für ein zukünftiges Nationales Fotozentrum empfohlen.

 

Zollverein ist aber viel mehr als ein bedeutender Wirtschafts-, Kultur- und Veranstaltungsort. Das Welterbe Zollverein ist zugleich das Symbol des Transformationsprozesses des Ruhrgebietes und der Industriegesellschaft insgesamt und der Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Förderturm der Zeche Zollverein hat als Ikone für die Wahrnehmung des Landes Nordrhein-Westfalen den Kölner Dom längst abgelöst und steht als Garant für die Tradition und die Zukunftsfähigkeit des Industrielandes Deutschland. Insofern verkörpert Zollverein den Gestaltungswillen des Industriezeitalters, als der Mensch sich aufmachte, die Welt völlig neu und nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Und diese postindustrielle Reflexion unserer Geschichte steht in Korrespondenz, aber auch in produktivem Gegensatz zum postfeudalen Erbe mit seinen Schlössern und Gärten und zum postkolonialistischen Erbe, das zumindest in Teilen die staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz verkörpern, und dieses Erbe verdient es allemal gleichrangig gefördert zu werden. Das ist die Botschaft von Zollverein.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Heinrich Theodor Grütter & Hans-Peter Noll
Heinrich Theodor Grütter ist Direktor des Ruhr Museums, Vorstandsmitglied der Stiftung Zollverein und Professor für Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Hans-Peter Noll ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zollverein und Professor für Geografie an der Ruhr-Universität Bochum.
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