Ferropolis

Stadt aus Eisen

Der letzte Kohlezug verließ den Tagebau im April 1991 in Richtung des Kraftwerks Zschornewitz. Im Tagebau Golpa-Nord im Osten des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt fand der Kohleausstieg bereits 1989 statt. Die Braunkohle war erschöpft, weitere Flächen wurden nicht mehr neu aufgeschlossen.

 

Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, ist der Ausstieg aus der energetischen Nutzung der Braunkohle beschlossen, zumindest in Deutschland. Dennoch gibt es in den Braunkohlregionen im Rheinischen und Mitteldeutschen Revier und in der Lausitz neben Einsicht auch Verunsicherung. Welche Zukunft folgt auf die Bergbaugeschichte?

 

Ferropolis, gelegen auf einer Halbinsel im ehemaligen Tagebau Golpa-Nord, gilt als erfolgreiches Zukunftsbeispiel. 150.000 Besucher jährlich feiern auf Ferropolis oder lernen an ruhigeren Tagen die Bergbaugeschichte kennen. Für die regionale Wirtschaft ist Ferropolis zu einem Einflussfaktor geworden. Mehr als 1,4 Millionen Euro regionale Wertschöpfung werden pro Festival erzeugt, und auf Ferropolis finden in jedem Jahr vier solcher Musik- und Kulturfestivals statt, dazu Konzerte, Sportevents, regionale Kulturveranstaltungen. Ferropolis ist Bergbaugeschichte und Experimentierraum der Event Industries gleichermaßen.

 

Am Anfang war die Region, waren die Bergleute skeptisch: Kann man dort, wo vor nicht allzu langer Zeit noch die Arbeit und die Maschinen den Takt des Lebens bestimmten, nun einfach feiern? Feierabende ohne Arbeitstage? Aber auch das ist Industriekultur: die Begleitung der Transformation, die Öffnung neuer Horizonte, die Auseinandersetzung mit dem Wandel – und immer auch Trauerarbeit. Inzwischen wissen fast alle in Gräfenhainichen, der Kleinstadt am Rande der Dübener Heide, welche Bedeutung Ferropolis für die Region hat. Und die ehemaligen Bergleute sind engagierte Botschafter für das industriekulturelle Erbe.

 

Ferropolis war von Anfang an eine kommunale Angelegenheit mit internationaler Ausstrahlung. Wenn zum splash!- oder zum melt!-Festival die Fans am Gremminer See campen, sind die städtischen Infrastrukturen vom Bahnhof bis zur Kläranlage am Rande der Belastungsgrenze. Andererseits sind die Gäste Wirtschaftsfaktoren, und viele Bürgerinnen und Bürger in Gräfenhainichen mögen den Austausch mit den bunten Besucherscharen.

 

Für die 25-jährige Entwicklung von Ferropolis sind drei Faktoren wesentlich: Ferropolis ist kommunale Aufgabe, Mehrheitsgesellschafter der Ferropolis GmbH ist die Stadt Gräfenhainichen. Das sorgt für Reibungen, und die erzeugen Spannungen – und Entwicklungsenergie.

 

Ebenso wichtig ist es, dass FERRO­POLIS Freiräume nutzen konnte. Entstanden ist die Idee für die Stadt aus Eisen am Bauhaus Dessau. Studierende und Werkstattleiter der Bauhaus-Werkstatt „Industrielles Gartenreich“ arbeiteten nach dem Ende der DDR an großen Zielen und fanden die Begründungen in der Geschichte der Region: Reformation in der Lutherstadt Wittenberg, Aufklärung im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, die Bauhausstadt Dessau – alles musste zu Beginn der 1990er Jahre neu gelesen und gewichtet werden. Die Industriekultur, das „Industrielle Gartenreich“, war da ein kreativer Schub. Eine anarchische Phase erlaubte mutige Entscheidungen: Der Revierleiter konnte per Unterschrift die für die Verschrottung der Tagebaugroßgeräte vorgesehenen Mittel umwidmen und für den Erhalt der fünf Tagebaugroßgeräte einsetzen, die heute Ferropolis ausmachen. Ganz ohne Machbarkeitsstudie oder Masterplan, anfangs auch noch ohne denkmalpflegerisches Gutachten, sondern allein im Vertrauen auf die Überzeugungskraft der Ideen der Bauhäusler. Notwendige Projektmittel stellten das Land Sachsen-Anhalt und der Bund zur Verfügung – und auch das ist wesentlich: Ohne „Spielgeld“ (Karl Ganser) lassen sich die besten Experimente nicht verwirklichen. Von Anfang an arbeitet Ferropolis übrigens ohne institutionelle Förderung.

 

Der dritte Erfolgsfaktor ist die Kultur selbst, meist die Musik. Die Entwicklung der Stadt aus Eisen braucht viele Verbündete. Eine Blaupause gab es nicht, auch wenn anfangs viel von der IBA Emscherpark im Ruhrgebiet gelernt werden konnte. Egal ob Amtsleiter oder Politikerin, Bürgermeister, Bankdirektor oder Nachbarin, sobald sich jemand für Ferropolis einsetzt, ist es meist die Musik, die verbindet. Und wen das nicht überzeugt, der ist beeindruckt von dem logistischen Aufwand, das ein Festival heute bedeutet.

 

Es ist die lebendige Industriekultur, die weit mehr als die Tourismuswirtschaft belebt. Identität, Respekt vor der Vergangenheit, auch Stolz und zugleich die Einsicht in die notwendige Veränderung durch Experimente – dafür steht Ferropolis heute: #ferro25.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Thies Schröder
Thies Schröder ist Geschäftsführer der Ferropolis Industriekultur gGmbH und der Ferropolis GmbH sowie Sprecher der Projektgruppe Industriekultur Mitteldeutschland.
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