Was andere nicht sehen

Zum Aktionsfeld des Kollektivs Industrie.Kultur.Ost

Leipzig ist inzwischen bekannt für sein industriekulturelles Erbe. Ob Baumwollspinnerei, Tapetenwerk oder Kunstkraftwerk – die geschichtlich und gesellschaftlich relevanten Räume, die vor oder mit dem Beginn der Industrialisierung entstanden, werden neu genutzt und zu Plattformen des kulturellen Austauschs. Sie schaffen Räume für die Zukunft, in denen eine fortlaufende Entwicklung je nach Nachfrage möglich ist. Während das Ruhrgebiet stets als Vorreiter für den Umgang mit der baulichen Substanz dieser Zeit des Aufschwungs steht, gibt es auch in Ostdeutschland zahlreiche Denkmäler des Industriezeitalters, die trotz wertvoller Bausubstanz und vielfältiger Entwicklungsmöglichkeiten, anders als in vielen der alten Bundesländern allmählich verfallen und an Standorten außerhalb der Großstädte oft noch keine Nachnutzung gefunden haben. Ein Kollektiv aus Zwickau dokumentiert diese Bauten und setzt sich inzwischen vielfältig für sie ein.

 

„Für uns sind Dinge begeisterungswürdig, die andere gar nicht sehen“, sagt Sebastian Dämmler, der als Teil des Kollektivs „Industrie.Kultur.Ost“ seit nun schon über zehn Jahren Industriebauten aufspürt, fotografiert und in eine Datenbank einpflegt. Gegründet hat sich die Gruppe von heute fünf Mitgliedern 2008 aus fotografischem Interesse heraus. Hauptberuflich sind die jungen Industriekulturforscher in Bereichen der Immobilienentwicklung, dem Archiv- und Ingenieurwesen tätig. Ausgehend von der Auswertung historischer Quellen, Bücher und Adressbücher sowie einer Standortanalyse über Satellitenbilder recherchieren sie, welche Bauten der nun schon über hundertjährigen Geschichte noch stehen, um sie auf Fototouren, die zwischen Dresden und Plauen begannen, in ihrer heutigen Situation abzulichten und auf ihren Leerstand hin zu untersuchen.

 

Während dieser Expeditionen werden die fotografischen Motive mit der Zeit immer weniger – die Gebäude selbst, aber auch das Wissen um ihre Geschichte und die kulturellen und sozialen Verhältnisse dahinter. Daher hat die Gruppe beschlossen, etwas zu unternehmen, und eine Datenbank gegründet, in der Industriebauten vom Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gesammelt und dokumentiert werden. Eingetragen ist dabei vorrangig die Nutzung der Gebäude zu DDR-Zeiten, da hier laut Dämmler ein „Vakuum in der Wissenschaft besteht“, sich die Zusammenhänge zwischen den zu damaliger Zeit vielerorts zentralisierten Betrieben so besser aufzeigen lassen und die bereits stattgefundenen Umnutzungen zu Gewerbe- und Wohneinheiten das Festhalten einer vollständigen Nutzungskette vielerorts ohnehin kompliziert gestalten. In der internen Datenbank existieren bereits 3.500 Bauten, öffentlich zugänglich sind davon 360 Gebäude.

 

Neben der Fotodokumentation und der Archivierung engagiert sich die Gruppe heute auch ehrenamtlich für die Bauten und die Kommunikation des Industriekultur-Begriffs. So hilft sie z. B. einzelne Gebäude wie die ehemalige Gardinenweberei Landmann & Hellwig in Zwickau, wo sie inzwischen selbst ein Atelier hat, zu erhalten. Bis vor drei Jahren war diese ungenutzt und wächst nun mit Bandproberäumen, einigen Gewerbeflächen und Ateliers zur Kulturfabrik heran. Spannend am Begriff der Industriekultur ist vor allem, dass dieser noch relativ jung und in der Bevölkerung nicht besonders verankert ist, so Dämmler. Er betrifft nicht nur die Geschichte, sondern auch und vor allem die Zukunft. Für viele, so sagt er, sind Industriekulturen Gebäude und Maschinen. Neben diesen materiellen Werten, die das architektonische und bauliche Erbe, also auch die Arbeitssiedlungen und Kulturhäuser umfassen, deckt der Begriff jedoch auch das immaterielle Erbe ab: den Wert und fortlaufenden Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, der unter anderem auch die Fragen umfasst, wie Dinge optimiert werden können oder wie und welche Vorgehensweisen der Vergangenheit zur Lösung heutiger und zukünftiger Probleme beitragen können.

 

Generell lässt sich wohl sagen, dass der Blick der Ostdeutschen auf ihre Industriekultur sich allmählich ändert. „Zwar haben viele den plötzlichen Verlust ihrer Arbeitsplätze noch nicht verarbeitet, wozu sicherlich auch der über 30 Jahre existierende Leerstand im Zentrum vieler Städte beigetragen hat, man merkt jedoch, dass in den letzten Jahren von Bürgerinitiativen mehr kommt und sich auch mehr Leute bemühen, Gebäude zu erhalten.“ Obwohl viele der Industriebauten seit ca. fünf Jahren wieder als Lager oder Ähnliches genutzt werden, gibt es regional immer noch extreme Unterschiede. In Cottbus wurden beispielsweise viele Bauten saniert und umgenutzt, während 15 Kilometer weiter in Forst (Niederlausitz) eine Ruine neben der anderen steht. Ein wiederkehrendes Problem scheint auch das Ausfindigmachen der Besitzer zu sein. Häufig leben diese im außereuropäischen Ausland, wie z. B. in der Türkei oder Israel.

 

Das Team von Industrie.Kultur.Ost wird inzwischen auch von Städten und Eigentümern angesprochen, Objekte nicht nur zu dokumentieren, sondern sogar Ideen für Nutzungskonzepte zusammenzutragen. Dazu gehört es dann, Beispiele aus anderen Regionen und ein möglichst breites Spektrum aufzuzeigen. Diese Aufgaben sind im Städtebau an der Tagesordnung, es ist also durchaus verwunderlich, dass noch kein Architekt oder Städtebauer im Team vertreten ist. Zwar hat es z. B. bei der Dresdener Robotron-Kantine eine Kooperation mit der Hochschule gegeben, aber die Ideen für mögliche Umgestaltungen sammeln die Mitte-Zwanziger eigentlich noch immer allein. Auch Immobilieninvestoren gehören zu ihrem Netzwerk aus Politikern, Kommunen und Vereinen. „Manche kommen zu uns und fragen an, ob eine Zusammenarbeit zur Auswahl eines Standorts in der Stadt X für das Projekt Y (z. B. einem Pflegeheim) möglich ist. Oft gibt es dann genaue Vorstellungen, aus welcher Zeit das Gebäude stammen soll, und wir kennen ja inzwischen die ganze Region.“ Wichtig ist der Gruppe vor allem, das jeweilige Bauwerk zu retten. Bei der Sanierung plädiert sie dafür, dass ein Wiedererkennungswert vorhanden bleibt – klassisches Feld der Denkmalpflege. Was dann genau passiert und ob ein Teil der Gebäudestruktur einem gemeinschaftlichen Zweck gewidmet wird oder ein eher profitorientiertes Eigeninteresse der Investoren siegt, darauf hat das Kollektiv keinen Einfluss. Für die Zukunft soll die Frage, wie Industriekultur für jüngere Menschen interessanter gemacht werden kann, im Vordergrund stehen, denn obwohl es sogar ganze Abrisswellen gibt, „ist noch viel zu tun für die Industriekultur“.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Riccarda Cappeller
Riccarda Cappeller ist Architekturjournalistin mit Fokus auf Projekten mit sozialem Hintergrund und neuen Nutzungsformen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz-Universität Hannover.
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