Ein lebendes Denkmal

Das Fagus-Werk

Das Fagus-Werk dominiert eine Fassade aus wenig Stahl und mit prägnanten Glasflächen. Vor dem Ersten Weltkrieg ließen Industriebauten oft auf den ersten Blick erkennen, dass den damaligen Eigentümern der Produktionsanlagen eher wenig bis gar nicht an gesunden Arbeitsstätten gelegen war. Oftmals wurden die Industriearbeiter in „herzlosen“ Bauten untergebracht, die weder Licht, Luft noch Sonne kannten.

 

Das entsprach in keiner Weise den Vorstellungen von Walter Gropius und Carl Benscheidt, die sich 1911 anschickten, das Fagus-Werk zu bauen.
Gropius sagte bei einem Vortrag am 29. Januar 1911 – vor seiner ersten Begegnung mit Benscheidt – im Folkwang-Museum in Hagen: „Der Arbeit müssen Paläste errichtet werden, die dem Fabrikarbeiter, den Sklaven der modernen Industriearbeit, nicht nur Licht, Luft und Reinlichkeit geben, sondern ihn noch etwas spüren lassen von der Würde der gemeinsamen großen Idee, die das Ganze treibt. Erst dann kann der einzelne Persönliches dem unpersönlichen Gedanken unterordnen, ohne die Freude am Mitschaffen großer gemeinsamer Werte zu verlieren, die früher dem Machtbereich des Individuums unerreichbar waren.“

 

Carl Benscheidt war ein sozial engagierter Unternehmer, der sein Leben an bestimmten, sogar kodifizierten, Lebensgrundsätzen ausrichtete. Einer lautete: „Unser Reichtum sind nicht unsere Maschinen noch ein Bankkonto, sondern das Wissen, das Können und die Einsatzbereitschaft unserer Mitarbeiter.“

 

In diesen Überzeugungen liegt der eigentliche Grundstein für das Werden einer modernen und wegweisenden Industriearchitektur. Das Fagus-Werk steht auch heute noch als Synonym für moderne und gesunde Arbeitsplätze.

 

Im Fagus-Werk werden seit Anbeginn Schuhleisten gefertigt, wobei das teilweise in Handarbeit geformte Originalmodell noch immer aus Buche besteht – das lateinische Wort Fagus bedeutet Buche. Die „Blütezeit“ der Schuhleistenproduktion währte in Deutschland bis Anfang der 1970er Jahre. Zu dieser Zeit waren bei Fagus in der Schuhleisten- und Stanzmesserproduktion mehr als 400 Arbeitnehmer beschäftigt.
Die zunehmende Auslagerung der Produktion in sogenannte Niedriglohnländer brachte das Fagus-Werk in schwieriges Fahrwasser. Es stand vor der Insolvenz. Das Unternehmen hatte es versäumt, neue Produkte auf den Markt zu bringen.

 

Mit Gerd und Ernst Greten, Urenkel des Firmengründers Carl Benscheidt, trat 1974 die vierte Generation in die Führung des Familienunternehmens ein. Die Ingenieure brachten mit dem Maschinenbau sowie elektronischen Produkten in der Mess- und Funkenlöschtechnik neue Produkte ein, deren Fertigung den Bestand des Unter-nehmens bis heute erfolgreich sichern.

 

Zu der Zeit war das bereits 1946 von den britischen Besatzern unter Denkmalschutz gestellte Gebäude in die Jahre gekommen. Unterlassene Unterhaltungsarbeiten bewirkten einen Verfall der Bausubstanz. Das Werk musste aufwendig restauriert werden. Mit den Arbeiten wurde 1984 begonnen, sie dauerten bis 2004. Insgesamt wurden rund 7,5 Millionen Euro investiert. Bund und Land beteiligten sich mit ca. 50 Prozent an den Kosten. Die weitere Hälfte wurde aus dem Unternehmen erwirtschaftet. Die Arbeiten wurden in engster Abstimmung mit den Organen der staatlichen Denkmalpflege durchgeführt.

 

Es macht ja gerade den einzigartigen Charme dieses Industriedenkmals und natürlich auch der UNESCO-Industriewelterbestätte aus, dass hier noch viele Menschen ihren Arbeitsplatz haben. Das ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Es gibt weltweit keine weitere Industriewelterbestätte, in der noch produziert wird.

 

Den Wandel des Unternehmens kann man an den einzelnen Geschäftszweigen gut nachvollziehen. Von den ehemals über 400 Mitarbeitern in der Schuhleisten- und Stanzmesserproduktion sind das heute noch knapp 50. In den Bereichen Brandschutz- und Messtechnik arbeiten gegenwärtig am Standort Alfeld 460 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Weltweit sind für das Familienunternehmen 600 Menschen tätig.

 

Natürlich ist es auch für ein erfolgreich am Markt agierendes Unternehmen etwas außerordentlich Positives, den Status einer UNESCO-Welterbestätte zu besitzen. Indessen kann dieser Umstand, jedenfalls gelegentlich, mit nicht unerheblichen Belastungen verbunden sein: Die Besucherführungen bei laufender Produktion finden nahezu täglich statt.

 

Um das Unternehmen von diesen betriebsfremden Aufgaben ein wenig zu entlasten, wurde mit der UNESCO-Auszeichnung der gemeinnützige Verein der Freunde und Förderer der UNESCO-Welterbestätte Fagus-Werk gegründet. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Öffentlichkeit, insbesondere der jüngeren Generation, die Bedeutung der Welterbestätte zu vermitteln.

 

Die UNESCO-Welterbestätte hat sich zu einem „kulturellen Leuchtturm“ in der Region entwickelt. Im vergangenen Jahr fanden im Werk z. B. 13 Tagungen, 24 kulturelle Veranstaltungen, wie Theateraufführungen, Musikveranstaltungen, Sonderausstellungen, Vorträge und Lesungen statt.
In dem ehemaligen Lagerhaus zur Trocknung von Schuhleistenrohlingen ist auf über elf Etagen auf 3.000 Quadratmetern Grundfläche die Fagus-Gropius-Ausstellung untergebracht. Mehr als 30.000 Originalmodelle erwarten die Besucher im historischen Schuhleistenarchiv.

 

Weitere Informationen zum UNESCO-Welterbe Fagus-Werk und zum Verein der Freunde und Förderer des Fagus-Werks finden Sie unter fagus-werk.com.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Karl-Heinz Duwe
Karl-Heinz Duwe ist ehemaliger hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Alfeld (Leine) und Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer des UNESCO-Weltkulturerbes Fagus-Werk.
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