Versteckter Genius

Das Welterbe im Harz: Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft

In der Vorstellung der Menschen sind es die „Kathedralen der Arbeit“, die das Bild der Industriekultur in Deutschland verkörpern. Auch die Tagesanlagen des Erzbergwerks Rammelsberg in Goslar prägen die Wahrnehmung durch die Monumentalität ihrer Ausführung.

 

Diese im Jahr 1992 zusammen mit der Stadt Goslar zum Welterbe ernannten authentischen Orte sind aber nur ein Teilaspekt des Welterbes im Harz. Über 800 Welterbe-Elemente prägen die nachindustrielle Landschaft einer Stätte der Weltkultur, die im Jahre 2010 um das Energiesystem der Oberharzer Wasserwirtschaft erweitert wurde.

 

Sie liegen verstreut in einer Fläche von über 200 Quadratkilometern und stehen in engem ideengeschichtlichem Zusammenhang, ohne indes alle als Merkmale der Industriekultur erkennbar zu sein.

 

Große Teile dieses Welterbes sind nahezu unsichtbar unter Tage oder in den Wäldern des Harzes z. B. als wasserbauliche Anlagen verborgen.
Fährt man in den Rammelsberg als Besucher ein, so kann man mehrere Kilometer untertägige Anlagen, die in ihrer Integrität nur in geringem Umfang durch moderne Interventionen verändert wurden, erleben und mit ein wenig mehr Kondition bis ins 12. Jahrhundert hinabsteigen.
Begibt man sich in die Bergbaufolgelandschaft Harz, so finden sich Dutzende von Teichanlagen und Wasserläufen, die über Hunderte von Jahren als ein dynamisches System der Protoindustrialisierung und der Hochindustrialisierung dem Bergbau seine notwendige energetische Grundlage zur Verfügung stellten.

 

Die Entwicklung des Bergbaus und der wasserbaulichen Anlagen im Mittelalter scheint an vielen Stellen mit dem Wissen der Zisterzienser Mönche in ganz Europa und auch mit ihrem Standort am Harz, dem Zisterzienser Kloster in Walkenried, verbunden zu sein. Hier finden sich also im Kontext vorindustrieller Prozesse geistesgeschichtliche Einflüsse klerikaler Prägung.

 

Gleichzeitig ist mit der historischen Genese dieser Welterbestätte eine enge Verknüpfung zwischen ökonomischer Entwicklung und weltlicher Macht verbunden. Goslar wurde als Reichsstadt zur Tochter des Berges und seiner Prosperität. Sie umgab sich mit „dicken Mauern“, weil sie Reichtum zu verteidigen hatte, über hundert Reichstage fanden in ihr statt und die Kaiserpfalz in Goslar wurde zu einem beliebten Aufenthaltsort der doch eigentlich zu diesem Zeitpunkt „reisenden Kaiser“.

 

Städtebauliches Gegenmodell zu dieser Macht- und Geldakkumulation in Goslar sind die Oberharzer Bergstädte, die keiner Mauern bedurften, weil der Landesherr mit seinem „berggeschrey“ in die unwirtliche Gegend des Harzes rief, um Bergbau zu betreiben, der dann an vielen Orten und kleinen Bergwerksbetrieben unter dem Schutz des Landesherrn realisiert wurde.

 

Der gesamte Lebensraum des Westharzes ist geprägt durch einen Prozess der Proto- und Hochindustrialisierung, dessen bestimmendes Merkmal die Ressourcenschöpfung im Rahmen des Montanwesens und die Schaffung energetischer Grundlagen vermittels Wasser gewesen ist. Mit diesem komplexen Prozess verbunden entstanden Bauwerke profanen wie klerikalen Ursprungs, einhergehend mit einem fundamentalen Umbau der Kulturlandschaft.

 

Die Komplexität verständlich zu machen und die „Spuren im Raum“ zu lesen, ist die Aufgabe der Stiftung Welterbe im Harz, die in diesem Sinne die einzelnen Elemente vernetzt, qualifiziert und entwickelt.
Da die archäologischen Funde zu diesen Sachverhalten bis zu 3.000 Jahre zurückreichen, geht es also darum, mehrere Tausend Jahre Menschheitsgeschichte auf einer Fläche von 200 Quadratkilometern als ein gemeinsames kulturelles Erbe an den Menschen zu vermitteln.
Die Stiftung Welterbe im Harz implementiert zu diesem Zweck unter anderem mehrere Welterbe-Informationszentren, die als kostenfreie Einrichtungen wie Portale den Weg ins Welterbe öffnen und erlebbar machen.

 

Aufgrund seiner Komplexität und Vielfalt und in seiner besonderen Ausprägungsform „unter Tage“ ist das Welterbe Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft also ein echter „hidden champion“.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Gerhard Lenz
Gerhard Lenz ist Geschäftsführer des Weltkulturerbes Rammelsberg und Direktor der Stiftung Welterbe im Harz.
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