Braunschweich, Braunschweich

Musikalische Heimatpflege

 

Braunschweig ist eine Stadt, die sehr stark durch Flucht und Vertreibung gekennzeichnet ist. Wer ist denn überhaupt der „richtige“ oder „alte“ Braunschweiger? Wenn ich zurückdenke, in meiner Kindheit und Jugend hing in vielen Fenstern ein Glasbild von Königsberg oder anderen Städten. Viele hatten Verwandte z. B. in Magdeburg. Sind das inzwischen auch Braunschweiger?
Ich teile Ihre Beschreibung und ich denke, viele, die durch Krieg und Vertreibung in Braunschweig gelandet sind, sind inzwischen genauso Braunschweiger wie jene, die nach 1990 hierher zogen, oder die vielen Menschen, die seit den 1950er Jahren als Arbeitsmigranten kamen. Daraus entstehen interessante Diskussionen, gerade auch mit Blick auf das Flüchtlingsthema.

 

Bei Stücken wie „Spiel mir das Lied vom Löwen“ oder auch „Winterklater“ sprechen Sie gesellschaftliche Themen wie z. B. Migration, Flucht und Vertreibung an. Sind diese Stücke eine Chance, an ein breites Publikum gesellschaftspolitische Botschaften zu adressieren?
Klar. Wenn ich bei „Spiel mir das Lied vom Löwen“, das in zwei Jahren 30.000 Zuschauer hatte, von Wirtschaftsflüchtlingen spreche, die Braunschweig verlassen haben, um in den USA Jobs zu suchen, dann entsteht bei vielen ein Aha-Erlebnis. Oder wenn ich feststelle, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nicht eine Million Flüchtlinge in Deutschland Zuflucht gesucht haben, sondern es zwölf Millionen Geflüchtete waren und viele in Braunschweig gelandet sind. Dann ist das ein Moment, an dem man Menschen zum Nachdenken bringt – und zwar jedermann, auch den Typen im Eintracht-Schal, der ansonsten nicht offen für solche Themen ist. Und diesen Kontakt bekomme ich in einem Theaterstück gut hin, wenn ich die Leute ein Stück weit „weichkoche“ oder durch die Stadtgeschichte vorbereite. Wenn ich es vorbereite und dem Publikum so erkläre, wie facettenreich, wie bunt unsere Stadt ist und wie schön es ist, dass es eben diese Facetten gibt, daraus entstehen starke Momente. Und ich glaube schon, dass Pop-, Jazz-, Rockkünstler tolle Multiplikatoren und Partner für all diese wichtigen Themen sind, ob es jetzt ein Live-Aid-Konzert ist oder Rock gegen rechte Gewalt.

 

Sie hatten eingangs unter anderem gesagt, dass Braunschweig als Großstadt dennoch eine gewisse Übersichtlichkeit hat, sodass man sich immer wieder über den Weg läuft. Ist dies ein Vorteil von der Heimat Braunschweig?
Ja, das finde ich schon. Es ist eine Stadt in einer Größenordnung, in der einem in einschlägigen Kneipen, Gaststätten, Diskos, Theatern und Kinos eine Schnittmenge an Leuten immer wieder über den Weg läuft und dann gemeinsam was auf die Beine stellt. Ich habe das immer als sehr angenehm empfunden. Es ist auch eine Stadt, die ihre Wunden hat. Wenn man das kapiert, wird dies ein Nährboden für viele Themen, die gesellschaftlich relevant sind und zugleich an der Lebensrealität der Menschen anknüpfen. Schon mit der Jazzkantine haben wir nach etwas Besonderem gesucht, einem Zwischending zwischen Jazz, Hip-Hop und deutschen Texten. Was die Stücke angeht, gibt es nicht so viele, die etwas Vergleichbares hier in der Stadt machen. Das betrifft das musikalische Niveau, das „Surrounding“, die Stücke und dann die Interaktion, wie Außenszenen bei „Spiel mir das Lied vom Löwen“ oder im Wintertheater die Verpflegung mit Brot und Wurst oder Braunkohl und Bregenwurst. Das ist sehr aufwendig, oft sehr nervenraubend und auch teuer, aber gleichzeitig bietet es einen besonderen Mehrwert. Wir versuchen, Formate zu erfinden, die Alleinstellungsmerkmale haben.

 

Dem kann ich nur zustimmen. Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Christian Eitner & Gabriele Schulz
Christian Eitner ist Musiker, Komponist, Musikproduzent und Künstlerischer Leiter von "Pop meets Classic" sowie der Produktionsfirma monofon, die für das Wintertheater im Spiegelzelt sowie diverse Theaterproduktionen in den Sommermonaten in Braunschweig verantwortlich ist. Im Juni 2019 hat die Neuproduktion "Hyper Hyper" im Staatstheater Braunschweig Premiere. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates. Beide sind Braunschweiger.
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