Christian Eitner & Gabriele Schulz - 26. Februar 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Heimat-Kunst

Braunschweich, Braunschweich


Musikalische Heimatpflege

Gabriele Schulz spricht mit dem Musiker und Komponisten Christian Eitner über das Bepinseln der Heimatseele, Alleinstellungsmerkmale und Musiker als Botschafter.

 

Gabriele Schulz: Herr Eitner, wie kommt man eigentlich als Musiker dazu, sich mit seiner Heimatstadt Braunschweig zu befassen?
Christian Eitner: Zum einen ist mein Vater so ein richtig waschechter Braunschweiger gewesen, der in der Klinterklater-Gegend groß geworden ist. Für Nicht-Braunschweiger: Unter Klinterklater wurden insbesondere im 19. Jahrhundert jene Wohngegenden bezeichnet, in denen Arme lebten. Von daher habe ich sehr viel Braunschweigisches mitbekommen. Gleichzeitig bin ich einer derer gewesen, die nicht unbedingt wegwollten aus der Heimat. Also, als Musiker nach Berlin, Köln, München, wo die großen Medien oder die Plattenfirmen sind. Ich war zwar als Musiker mit einem Elektronikprojekt viel in den USA auf Tour, war im Studio und hatte einen Achtungserfolg. Dann war ich in Deutschland mit der Jazzkantine unterwegs. Mir reichte irgendwann das Unterwegssein. Ich brauchte die kontinuierliche räumliche Veränderung nicht mehr. Mit der Jazzkantine wurde mir klar, dass man durchaus auch aus der Region heraus erfolgreich Musik machen kann. Ich brauche nicht mehr ins ganz große Tonstudio nach Berlin oder Hamburg. Inzwischen kann ich aus meinem Home-Studio alles machen. Und ich hatte immer schon eine große Liebe zu Braunschweig, habe mich hier immer wohlgefühlt, war immer schon großer Fan von Eintracht Braunschweig und vom Theater. Außerdem habe ich gesehen, dass es ein Vorteil ist, dieses Netzwerk in einer Stadt mittlerer Größe nutzen zu können. Die Wege sind klein, man kennt sich.

 

Und wie ging es dann mit dem Theater los?
Der Anfang war 2003 „Braunschweich, Braunschweich! Ein Heimatabend mit der Jazzkantine“, eine Zusammenarbeit der Jazzkantine mit dem Staatstheater Braunschweig. Wir haben „Braunschweich, Braunschweich!“ als Heimat-Musical auf die Bühne gebracht und hatten einen tollen Erfolg. Das war für uns der Moment, an dem wir gemerkt haben: Boah, das ist ja ein Thema, was die Stadt anscheinend sehr, sehr interessiert. In den Jahren ist es mehr und mehr gewachsen. Denn wir haben zunehmend gemerkt, dass das eine Marktlücke ist, die ein Staatstheater so nicht bedienen kann. Damit sind wir quasi Spezialisten im Regionaltheater geworden.

 

Wenn Sie auf die Stadt gucken, stellen Sie eine Veränderung durch die Wiedervereinigung fest? Braunschweig war lange Zeit letzte Großstadt vor der Grenze.
Klar. Braunschweig ist in den Jahren des Kalten Krieges in eine Art Niemandsland, Zonenrandgebiet, wie es hieß, abgerutscht. Daraus, zusammen mit einer schlimm zerstörten Altstadt und dem ewigen Zwist mit Hannover, entstand ein Komplex. Das ist ein guter Nährboden, aber auch eine Herausforderung, hier Theater zu spielen und die regionalen Aspekte mit einzubringen. Ich merke, dass das Publikum das wirklich aufsaugt und irgendwie Identität sucht. In meinen Augen ist es eine Riesenchance für Kulturschaffende, genau diese Sehnsüchte zu bedienen, oder, wenn man in dieser Stadt groß geworden ist, die Seele ein Stück weit zu bepinseln, aber auch alte Lieder, alte Texte rauszukramen und damit eine Art musikalische Heimatpflege zu machen.

 

Wie kann ich mir die musikalische Heimatpflege vorstellen? Wie kommen Sie an die Melodien?
Es gibt aus den 1960er und 1970er Jahren durchaus ein paar alte Schallplatten. Manches gibt es notiert im Staatstheater- oder im Stadtarchiv. Ansonsten fahre ich zum Heimatverein, z. B. nach Ölper, oder ich gehe in einen Altenstift mit einem Diktiergerät und frage nach, was es für Lieder gibt. Wenn wir die Lieder spielen, spüre ich, wie angerührt das Publikum ist. Daraus entsteht ein emotionales Hin und Her. Mit der Jazzkantine haben wir eine ganze CD über Volkslieder gemacht. Wir haben sie vom Nazi-Missbrauch befreit und in verjazzter Version gespielt. Das ist eine Art zu zeigen: Ich liebe meine Heimat und ich liebe meine Heimatstadt. Ich liebe die Schrulligkeiten, den Lokalkolorit und auch die alten Lieder. Das ist mir wichtig, gerade mit Blick auf die vermeintlich großen Themen wie Digitalisierung oder Globalisierung.

 

Typisch für Braunschweig ist auch die Sprache, wie z. B. der alles dominierende Vokal „A“. Das greifen Sie auch in Stücken auf. Ist das auch eine Art Heimatpflege?
Absolut. Das gilt für Worte, wie z. B. „gatschen“ für regnen, aber auch für die Aussprache, wie das von Ihnen erwähnte „A“, das andere Vokale ersetzt. Ich spüre das besonders in der Rolle der Harfen-Agnes, einer Bänkelsängerin, die als Braunschweiger Original gilt. Harfen-Agnes trat in einem immer gleichen „Kostüm“ bei Volksfesten auf und trug ihre selbst gedichteten, teils frivolen Lieder vor. Im Stück „Mensch Agnes!“, das im Staatstheater gespielt wurde, haben wir aber zugleich thematisiert, dass Harfen-Agnes im Zuge der Euthanasie während des Nationalsozialismus nach Königslutter zwangseingewiesen wurde und dort noch vor der Deportation verstarb. Heimat kann also auch alles andere als eine heile Welt sein.

 

Braunschweig ist eine Stadt, die sehr stark durch Flucht und Vertreibung gekennzeichnet ist. Wer ist denn überhaupt der „richtige“ oder „alte“ Braunschweiger? Wenn ich zurückdenke, in meiner Kindheit und Jugend hing in vielen Fenstern ein Glasbild von Königsberg oder anderen Städten. Viele hatten Verwandte z. B. in Magdeburg. Sind das inzwischen auch Braunschweiger?
Ich teile Ihre Beschreibung und ich denke, viele, die durch Krieg und Vertreibung in Braunschweig gelandet sind, sind inzwischen genauso Braunschweiger wie jene, die nach 1990 hierher zogen, oder die vielen Menschen, die seit den 1950er Jahren als Arbeitsmigranten kamen. Daraus entstehen interessante Diskussionen, gerade auch mit Blick auf das Flüchtlingsthema.

 

Bei Stücken wie „Spiel mir das Lied vom Löwen“ oder auch „Winterklater“ sprechen Sie gesellschaftliche Themen wie z. B. Migration, Flucht und Vertreibung an. Sind diese Stücke eine Chance, an ein breites Publikum gesellschaftspolitische Botschaften zu adressieren?
Klar. Wenn ich bei „Spiel mir das Lied vom Löwen“, das in zwei Jahren 30.000 Zuschauer hatte, von Wirtschaftsflüchtlingen spreche, die Braunschweig verlassen haben, um in den USA Jobs zu suchen, dann entsteht bei vielen ein Aha-Erlebnis. Oder wenn ich feststelle, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nicht eine Million Flüchtlinge in Deutschland Zuflucht gesucht haben, sondern es zwölf Millionen Geflüchtete waren und viele in Braunschweig gelandet sind. Dann ist das ein Moment, an dem man Menschen zum Nachdenken bringt – und zwar jedermann, auch den Typen im Eintracht-Schal, der ansonsten nicht offen für solche Themen ist. Und diesen Kontakt bekomme ich in einem Theaterstück gut hin, wenn ich die Leute ein Stück weit „weichkoche“ oder durch die Stadtgeschichte vorbereite. Wenn ich es vorbereite und dem Publikum so erkläre, wie facettenreich, wie bunt unsere Stadt ist und wie schön es ist, dass es eben diese Facetten gibt, daraus entstehen starke Momente. Und ich glaube schon, dass Pop-, Jazz-, Rockkünstler tolle Multiplikatoren und Partner für all diese wichtigen Themen sind, ob es jetzt ein Live-Aid-Konzert ist oder Rock gegen rechte Gewalt.

 

Sie hatten eingangs unter anderem gesagt, dass Braunschweig als Großstadt dennoch eine gewisse Übersichtlichkeit hat, sodass man sich immer wieder über den Weg läuft. Ist dies ein Vorteil von der Heimat Braunschweig?
Ja, das finde ich schon. Es ist eine Stadt in einer Größenordnung, in der einem in einschlägigen Kneipen, Gaststätten, Diskos, Theatern und Kinos eine Schnittmenge an Leuten immer wieder über den Weg läuft und dann gemeinsam was auf die Beine stellt. Ich habe das immer als sehr angenehm empfunden. Es ist auch eine Stadt, die ihre Wunden hat. Wenn man das kapiert, wird dies ein Nährboden für viele Themen, die gesellschaftlich relevant sind und zugleich an der Lebensrealität der Menschen anknüpfen. Schon mit der Jazzkantine haben wir nach etwas Besonderem gesucht, einem Zwischending zwischen Jazz, Hip-Hop und deutschen Texten. Was die Stücke angeht, gibt es nicht so viele, die etwas Vergleichbares hier in der Stadt machen. Das betrifft das musikalische Niveau, das „Surrounding“, die Stücke und dann die Interaktion, wie Außenszenen bei „Spiel mir das Lied vom Löwen“ oder im Wintertheater die Verpflegung mit Brot und Wurst oder Braunkohl und Bregenwurst. Das ist sehr aufwendig, oft sehr nervenraubend und auch teuer, aber gleichzeitig bietet es einen besonderen Mehrwert. Wir versuchen, Formate zu erfinden, die Alleinstellungsmerkmale haben.

 

Dem kann ich nur zustimmen. Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.


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