Bilder und Geschichten aus der Provinz

Der Heimatfilm

 

Erst der kritische Heimatfilm der späten 1960er und 1970er Jahre, die sechsteilige österreichische Fernsehserie „Alpensaga“ und schließlich die elfteilige Chronik „Heimat“ des Regisseurs Edgar Reitz fanden den Weg zur sozialen, politischen und historischen Realität, von denen die Vorläufer nichts hatten wissen wollen. Sie befreiten die Darstellung des Landlebens von den bisher geltenden Klischees und setzten den Topos der unschuldigen Natur nicht länger ein, um die darin lebenden Menschen zu entlasten. Reitz’ Epos ist Ortsgeschichte im emphatischen Sinn, im Mikrokosmos eines Dorfes spiegelt sich die Geschichte Deutschlands von 1919 bis 1982. Dabei zeigt sich eine der Möglichkeiten und Stärken des Heimatfilms, die das Genre auch und gerade heute in Zeiten der Globalisierung, der Diversität und zunehmender Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen aktuell erscheinen lassen: Ein Zugriff auf „das Ganze“ ist uns verwehrt, aber der Heimatfilm kann Denkweisen, sozialen Wandel und Auswirkungen politischer Entscheidungen in einem konkreten Erfahrungsraum präsentieren, kann zeigen, wie Bewohner eines Ortes Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsproblematik, Diversität oder technische Veränderungen erleben und verstehen. Aufgrund seiner geringeren Dichte semantischer Elemente ist das provinzielle Setting dafür besser geeignet als das urbane, die Grenzlinien zwischen Tradiertem und Neuem, Eigenem und Fremdem, Integration und Ausschluss können im ländlichen Kontext viel deutlicher hervortreten.

 

Reitz’ Chronik hatte internationale Wirkung, so wurde die 2013 angelaufene Serie „The Village“ von der BBC als Großbritanniens Antwort auf „Heimat“ angekündigt. Auch außerhalb des deutschsprachigen Kulturraums gab und gibt es Filme, die – mal im Gewand der Komödie oder der Coming-of-Age-Story, mal in jenem des Sozialdramas oder der Satire – Themen und Anliegen des Heimatfilms aufgreifen. Das amerikanische „small town cinema“, das „prairie cinema“ und schon der Western; der schwedische „Landsbygdsfilm“; das französische „cinéma rurale“, das „cinéma paysan“ und, modernste Variante, das „cinéma du métissage“: Sie alle sind mit dem Heimatfilm vergleichbar, dienen wie dieser der Mythenbildung und der Konstruktion von Gemeinschaften. So stellt der Gegensatz von Natur und Zivilisation eine Konstante im amerikanischen Selbstverständnis dar. Hollywood feierte in vielen Filmen die Tugenden des einfachen Lebens in der Provinz und zeichnete die Stadt als Sündenbabel. Während der Agrarkrise in den 1980er Jahren, als im Mittleren Westen jede zehnte Farm Bankrott ging, ergriffen mehrere Filme Partei für die Farmer und präsentierten die Arbeit auf dem Land als den wahren „American way of life“, gleichbedeutend mit Freiheit und Unabhängigkeit. Dieser amerikanische Traum wird nun nicht mehr von den Gefahren der Wildnis bedroht, sondern von Banken und Staatsbeamten. Die Farm als Herz der Demokratie: Mit der Realität hatte das kaum noch etwas zu tun, der immense Reichtum der USA kam aus den Städten, die Filme repräsentierten nur den Traum einer längst verlorenen Unschuld. Auch das französische Kino kennt Sublimation dieser Form. Der Erfolg von Dany Boons „Bienvenue chez les Ch’tis“ hat auch damit zu tun, dass hier eine von der Globalisierung unberührte, simple, aber sympathische Region mit kauzigem Dialekt und merkwürdigen lokalen Bräuchen präsentiert wurde, in der es weder Wirtschaftskrisen noch Integrationsprobleme gibt.

 

In einer Zeit, in der sich alle Orte immer mehr gleichen und sich die Kultur zusehends entmaterialisiert, scheint die Sehnsucht nach Dialekt, regionalem Eigensinn und Überschaubarkeit zu wachsen. Der heutige Heimatfilm ist, wie der Engel Benjamins, oft einer Vergangenheit zugewandt, die längst in Trümmer zerfallen ist. Doch vermag er manchmal, aktuelle Lebenswirklichkeit auf die Leinwand zu bringen wie „Normandie nue“, der die Nöte von Bauern angesichts der EU-Agrarpolitik und der Dumpingpreise deutscher und rumänischer Fleischgroßhändler zum Ausgangspunkt nimmt. Oder der in einem schwäbischen Dorf angesiedelte Film „Landrauschen“, der zeigt: Die eigene Kultur ist selbst heterogen, die Jugendlichen sprechen zwar Dialekt und engagieren sich in Vereinen, doch sie suchen andere Lebensformen als die Eltern. Wenn von den somalischen Flüchtlingen am Ort gefordert wird, sich anzupassen, fragt sich, an wen? An welche Werte? Dies könnte Thema zukünftiger Heimatfilme sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Jürgen Heizmann
Jürgen Heizmann ist Professor für Literatur- und Filmwissenschaft an der Université de Montréal und war 2016 Jurymitglied in der Kategorie Spielfilm beim internationalen Filmfest "Der neue Heimatfilm" in Freistadt in Österreich.
Vorheriger ArtikelGemeinsames Erbe von Natur und Kultur
Nächster ArtikelBraunschweich, Braunschweich