Verortung in Raum und Zeit

Heimat wird in vielen Formen erlebt und tradiert

Die positive Bindung an Heimat ist keine Selbstverständlichkeit. Über Jahrhunderte wurden Christen vor einer Verankerung in dieser Welt gewarnt. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es im Hebräerbrief (13,14). Das war die Losung für das Jahr 2013. Christen sollten sich auf die Ewigkeit ausrichten, die nach dem Tod als wahre Heimat auf uns wartet. Jede starke Bindung an diese Erde und dieses Leben galt als eine Versuchung und Täuschung, eine Form des Vergessens, gegen die man sich wappnen muss, wie es im Lied „Das Jahr geht still zuende“ des Evangelischen Gesangbuchs  heißt:

„Dass nicht vergessen werde, was man so leicht vergisst: dass diese arme Erde nicht unsre Heimat ist. Es hat der Herr uns allen, die wir auf ihn getauft, in Zions goldnen Hallen ein Heimatrecht erkauft.“

Diese Vergleichgültigung irdischer Existenz durch die starke Ausrichtung auf ein Leben im Jenseits hat Menschen aber nicht davon abgehalten, in diese Welt zu investieren und sich auch in ihr zu verankern. Der christlichen Botschaft steht nämlich die universale anthropologische Erfahrung entgegen, dass es Orte gibt, zu denen man eine lebenslängliche emotionale Bindung behält, weil dort Grunderfahrungen des Lebens gemacht wurden, die für die eigene Entwicklung bedeutsam, unverlierbar und prägend bleiben.

 

Heimat als individuelle Prägung

 

Solche Orte prägen und formen uns lebenslang, weil sich an ihnen das Bewusstsein vom Werden der eigenen Person mit der Erfahrung der Welt untrennbar verschränkt. Die Frage nach der Heimat hat deshalb unmittelbar mit der individuellen Entwicklung und der gefühlsmäßigen Grundierung der eigenen Identität zu tun. Ich habe z. B. viele Jahre meines Lebens in ein- und demselben Stadtteil gewohnt und konnte miterleben, wie Bewohner aus- und einzogen, starben und geboren wurden. Das eigene Leben war Teil dieses raum-zeitlichen Umschlagplatzes. Heimat ist ein solcher Platz, wo man viele Häuser und ihre Bewohner kennt, die einen zum Teil noch als Kind kannten und wo man später selbst die Erwachsenen als Kinder vor sich sieht und Geschichten über ihre verstorbenen Eltern erzählen kann. Heimat ist ein räumlich klar begrenztes transgenerationelles Gedächtnis, das den Sozialzusammenhang eines Dorfes oder einer Stadt umfasst, wo sich an jeder Ecke überraschend Erinnerungen zu Wort melden können. Denn Heimat ist ein Resonanzphänomen. Sie ist der klar definierte Raum, in dem die Wünschelrute der unwillkürlichen Erinnerungen ausschlägt. Noch kürzer: Heimat ist „der Ort, wo die Erinnerung sich auskennt“, schreibt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Oktober 2018.

 

Heimat, Reflexion und Krise

 

„Heimat“ ist aber mehr als ein Ort. Es ist zunächst einmal ein Wort, das wie ein Schwamm viele kulturelle Traditionen und Schwingungen in sich aufgesogen hat. In diesem Sinne ist Heimat das Kunstprodukt von Romantikern, die im 19. Jahrhundert Lieder gesungen, Bilder gemalt und Geschichten erzählt haben. Damit haben sie eine Grundschicht gelegt, von der Fragmente bei der Wiederverwendung noch immer wieder mit aufgerührt werden wie Kaffeesatz in einer Tasse. Viel von dem Kaffeesatz hat sich aber gesetzt und ist nicht mehr anschlussfähig. Dazu gehört das Phantasma von einem deutschen Volksgeist und der Angst der Überfremdung ebenso wie die Vorstellung einer unberührten Natur. In der Modernisierungskultur wurde Heimat entwertet und als Gegensatz von Bewegung und Fortschritt begriffen. Sie musste der Industrialisierung weichen, was wiederum die Romantiker auf den Plan rief. Was mit diesem Wort zusammengesetzt war, wie z. B. Heimatliteratur, Heimatkunst, Heimatfilm oder Heimatverein, „war schon gerichtet“, wie Burkhard Spinnen es ausdrückte.

 

Das Wort galt lange als abgenutzt und unbrauchbar, aber so schnell wird man es nicht los. Es wurde wiederentdeckt und erwies sich dabei als kostbar und unersetzlich. Dafür musste es ausgeleert, neu aufgefüllt und neu besetzt werden. Dieser produktive Suchprozess ist noch im Gange: Dieses Themenheft des Kulturrates ist ein Teil dieser Suche. Es ist deutlich geworden, dass man auf die Komponenten Emotionalität und Identität im Heimat-Begriff nicht so einfach verzichten kann. Er drückt Liebe und Bindung gegenüber übergeordneten Instanzen aus, für die einen mit dem Vaterland, für die anderen mit Natur und Umwelt. Weil der Begriff sowohl kulturell geformt als auch individuell konkretisiert erfahren wird, ist er ein wichtiges Scharnier zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Im politischen Diskurs spricht man gern von „Kitt“, allerdings ist dieser Kitt nicht grau, sondern grün oder auch bunt. Wie bunt dieser Kitt sein darf, das ist zurzeit ein aktuelles Thema. Denn zur Neufassung des Begriffs gehört auch, dass Heimat nicht mehr vorrangig nur für „Sehnsucht“, sondern immer öfter auch für „Solidarität“ steht.

 

Wo langfristige, selbstverständliche Sesshaftigkeit herrscht und soziale, politische und kulturelle Kontinuitäten nie schmerzhaft unterbrochen wurden, braucht man das Wort Heimat eigentlich nicht, denn was man hat, muss man ja nicht zum Thema machen. Heimat ist ein Reflexionsbegriff, der Vergleich, Differenz und Distanz voraussetzt. Es ist ein Fingerzeig auf etwas, das unselbstverständlich geworden, entzogen oder verloren ist, und erst in dieser Dialektik von Verlust und Sehnsucht zur Sprache und zu Bewusstsein kommt. Die Konjunktur des Begriffs zeigt, dass diese konkrete Verortung in Raum und Zeit, die wir Heimat nennen, heute immer wichtiger geworden ist, nicht nur, weil sich die Welt rapide verändert, sondern auch, weil die Bewohner der Welt viel stärker in Bewegung geraten sind. Die neue Aktualität des Heimatbegriffs ist zusammen mit einem immer gröber werdenden Bedrohungsdiskurs entstanden. Globalisierung und Migration, so heißt es, führen automatisch zur totalen Entgrenzung und zum Identitätsverlust. Das löst eine diffuse Angst und ein Verlustgefühl aus, wogegen dann ein emphatischer Heimat- und Volksbegriff aufgebaut wird. Dieser Heimatbegriff ist fremdenfeindlich ausgerichtet, weil der Fremde nur noch als direkte Bedrohung gesehen werden kann, ganz im Sinne von Carl Schmitts Freund-Feind-Polarisierung, in der der Fremde zum Feind wird und die eigene Existenz infrage stellt. Auf diese Weise entsteht eine soziale Vertrauenskrise, die ein friedliches Mit- und Nebeneinander sowie eine Anerkennung von Anderssein nicht mehr zulässt.

 

Ein historisches Beispiel von Heimatverlust

 

Eine ganz neue Qualität bekommt der Begriff Heimat deshalb in Krisenzeiten. Die Härte der Krise haben bisher vor allem die zu spüren bekommen, die ihre Heimat durch Flucht, Vertreibung und Migration verloren haben. Inzwischen sind es aber auch immer stärker die Sesshaften, die ihre Heimat durch Zuwanderer bedroht sehen. Tatsächlich kann man die Heimat auch verlieren, ohne sich zu bewegen. Das geschieht
z. B. wenn das eigene Land plötzlich in eine andere politische und kulturelle Form gepresst wird und sich dabei bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der jiddische Schriftsteller Josef Burg hat das mehrfach erlebt. Er ist 1912 in Czernowitz am äußersten östlichen Rand des Habsburg-Reichs Österreich-Ungarn in einer Enklave deutschsprachig-jüdischer Kultur geboren. In dieser vielstimmigen Region, in der unterschiedliche Volksgruppen, Sprachen und Religionen friedlich nebeneinander koexistierten, erlebten die deutschsprachigen Juden im 19. Jahrhundert eine beachtliche Emanzipationsgeschichte und entwickelten eine blühende Kultur. Als 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Friedensverträgen neue Grenzen gezogen wurden und eine Politik der Nationalisierung begann, änderten sich die Voraussetzungen. Burg musste seine Heimat gar nicht räumlich verlassen, um den Verlust der Heimat zu erfahren: „Als ich geboren wurde, war Österreich unser Vaterland, Wien unsere Hauptstadt, und Franz Josef unser Kaiser. Als ich ein Kind war, war Rumänien unser Vaterland, Bukarest unsere Hauptstadt und Ferdinand unser König. Als Erwachsener war die Sowjetunion unsere Heimat, Moskau unsere Hauptstadt und Stalin der Vater aller Völker. Aber ich bin weder Österreicher, noch Rumäne, noch Sowjet oder Russe, sondern Bukowiner… Ich bin hier geboren. Überall bin ich Bukowiner.“

 

Dieses eindrucksvolle Bekenntnis zur kleinen Provinz Bukowina und zu Wien als Ort der Herkunft spricht das Gefühl vieler Czernowitzer Juden aus, die unterhalb der aufgezwungenen Vaterländer und Sprachen weiterhin ein Bewusstsein ihrer kulturellen Identität als moderne kosmopolitische Stadt am Rande des Habsburg-Reichs pflegten. Die kulturelle Heimat, die sie sich schufen, war politisch gesehen bereits eine Sache der Vergangenheit, mit der sie sich dem Trend der Nationalisierung subversiv widersetzten. Der Begriff „Heimat“ nahm dabei die gegensätzlichen Konnotationen von Nostalgie und Utopie in sich auf. Nachdem die Hälfte der über 60.000 Juden durch die deutsche Besatzung in Ghettos gesperrt und ermordet oder durch die sowjetische Regierung nach Sibirien deportiert und der Rest ins Ausland geflohen war, ist die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg mit neuen Bevölkerungsgruppen aufgefüllt worden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebte Josef Burg einen vierten Systemwechsel; heute gehört Czernowitz zur Ukraine. Inzwischen haben erst die Russen und dann die Ukrainer dort ein neues Heimatgefühl ausgebildet, in dem die früheren Schichten der Geschichte der Stadt lautlos verschwinden. Es gibt allerdings eine Handvoll Menschen in der nachwachsenden ukrainischen Generation, die versuchen, durch das Trauma der Gewalt und die Bleidecke des Vergessens hindurchzustoßen und den heutigen Bewohnern etwas von dem Reichtum der früheren Heimat Czernowitz ins Bewusstsein zu bringen. Denn auch das gehört für sie zu ihrer Heimat: Spurensuche, Interesse an den bedeutenden Werken der Kultur, die hier geschaffen wurden, und Teilhabe an der eigenen Geschichte.

 

Neue Heimat

 

So hieß die Baugenossenschaft, die im ausgebombten Nachkriegsdeutschland den Wiederaufbau organisierte. Damals galt es, auch 14 Millionen Geflüchteten und Vertriebenen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Nach 1989 entstand in den neuen Bundesländern wieder eine „neue Heimat“ durch Sanierung und Rekonstruktionen. Die Aufgabe, eine weitere neue Heimat zu schaffen, betrifft nach 2015 den Westen wie den Osten. Tiefgreifende Veränderungen sind längst im Gange und es kommt nun darauf an, diesen Übergang gemeinsam und konstruktiv zu gestalten. Das Subversive am neuen Heimatbegriff könnte heute die Fokussierung auf das Lokale und Regionale sein, auf die Stadt, die Region oder die Landschaft. Während die Politik den politischen Rahmen für den abstrakten Staat und die abstrakte Nation festlegt, leben, erleben und gestalten die Bewohner ihre räumliche Nachbarschaft weitgehend selbst und legen dabei Sinn und Bedeutung des Raums fest. Durch ihre Handlungen und Beziehungen, Aktivitäten und Projekte stellen sie Heimat performativ her und gestalten sie um, indem sie andere ausschließen oder einschließen, und das heißt: indem sie füreinander einstehen, sich anerkennen, sich gegenseitig ihrer Orientierungen vergewissern und neue Formen des Zusammenlebens erproben. „Neue Heimat“ bedeutet dann, diesen Raum des Zusammenlebens gemeinsam zu definieren. Heimat wird in vielen Formen erlebt und tradiert: nicht nur in Landschaft und Architektur, sondern auch in vielen kulturellen Praktiken, die man über die Grenzen mitnehmen kann wie Sprache, Geschichten, Gedichte, Gebete, Rezepte, Bilder oder Musik. Die Landschaft und die gebaute Umwelt bleiben zurück, aber die anderen Mitbringsel können in einer neuen Heimat Platz finden. Was alles in dem Wort Heimat steckt, entscheidet sich am Schluss vor Ort. So oder so – Heimat ist immer im Umbau.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

Aleida Assmann
Aleida Assmann ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und hat bis 2014 an der Universität Konstanz unterrichtet. 2018 erhielt sie zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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