Der Begriff „Heimat“ ist schillernd. Zurzeit hat er Konjunktur und dies nicht erst seit es ein Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gibt. Die verschiedenen Parteien im Deutschen Bundestag, von rechts bis links, versuchen sich dem Begriff zu nähern und auch der Deutsche Kulturrat setzt sich in einem auf zwei Jahre angelegten Projekt mit dem Spannungsfeld von Heimat und Nachhaltigkeit auseinander. Ausgangspunkt ist hier die Frage: „Heimat – was ist das?“.
Was ist Heimat? Ist Heimat der Geburtsort? Ist Heimat ein Sehnsuchtsort? Ist Heimat ein Gefühl? Ist Heimat der Ort, an dem ich lebe? Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird das deutsche Wort „Heimat“ mit dem lateinischen Worten „patria“ sowie „domicilium“ übersetzt. Althochdeutsch heißt es „heimôti“ und wird im mittelhochdeutschen zu „heimuot“. Wobei das mittelhochdeutsche „muot“ nicht mit dem neuhochdeutschen „Mut“ zu übersetzen ist, sondern mit „Denken“, „Ansicht“, „Einstellung“ oder „Absicht“. D. h. bereits in seinem Wortstamm und in seiner Wortgeschichte handelt es sich bei „Heimat“ um ein Wort, das sich eben nicht in erster Linie auf einen Ort oder einen politischen Zusammenhang (Latein: patria, Deutsch: Vaterland), sondern vielmehr auf Ansichten oder Einstellungen bezieht. Die literarischen Beispiele zur Verwendung des Begriffs „Heimat“ im Grimmschen Wörterbuch beziehen sich auf die Hebräische Bibel, hier besonders das Buch Mose, oder vielfach auf Texte der Romantik oder Autoren des bürgerlichen Realismus.
Die literarische Verwendung des Begriffs „Heimat“ macht den Bedeutungsgehalt des Wortes meines Erachtens sehr gut deutlich. Mit „Heimat“ wird sehr oft das beschrieben, was nicht mehr ist, was schmerzlich vermisst wird, was im Rückblick in einem ganz neuen, vielfach glänzenden Licht erscheint. Die Romantik als literarische Epoche, die sich bewusst von der Aufklärung absetzte und sehr oft das Unheimliche zum Gegenstand hatte, schaute zurück. Das Mittelalter erschien in jener Zeit in einem ganz neuen Glanz. Nicht mehr die Pestilenz stand im Vordergrund, sondern die Epen von tapferen Rittern und tugendhaften Damen, die, kleiner Aperçu am Rande, zumeist Nachdichtungen französischer Epen waren.
Eine besondere Stärke des bürgerlichen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Naturbeschreibung, wenn etwa Adalbert Stifter im „Nachsommer“ über Seiten Bäume, die an fließenden Gewässern stehen, beschreibt und die heile Natur beschwört. Gleichzeitig brach sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der fortschreitenden Industrialisierung der Raubbau an der Natur Bahn. Die Naturalisten stellten genau diesen Raubbau an Menschen und Natur in den Mittelpunkt ihres literarischen Schaffens.
Heimat oder auch Naturbetrachtung, insbesondere der deutsche Wald, gewinnen in der Literatur an Relevanz, wenn die Welt im Umbruch ist, wenn eben alles nicht mehr so schön ist, wie in der Dichtung beschrieben. Nicht von ungefähr hat darum meines Erachtens heute der Begriff „Heimat“ Konjunktur. Viele Menschen spüren im Privaten, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenleben das Wegbrechen alter Gewissheiten. Menschen in Ostdeutschland ohnehin, die in einem seit nunmehr 30 Jahre dauernden Transformationsprozess unter Dauerstress gesetzt sind. Aber auch die Bevölkerung an anderen Orten Deutschlands erleben die Umbrüche oftmals als ein Stakkato der Zumutungen. Die Digitalisierung der Arbeitswelt, der Anspruch jederzeit verfügbar zu sein, die Entgrenzung von Arbeit und Leben, die Industrialisierung der Landwirtschaft und nicht zuletzt die weltweiten Migrationsbewegungen zeigen, die Welt ist in Bewegung.
Diese Bewegung kann ebenso Angst machen, wie der Verlust anderer Gewissheiten wie beispielsweise der Bedeutung der Volksparteien für die deutsche Demokratie. Es entsteht hieraus auf der einen Seite eine Sehnsucht nach Heimat, nach der Zeit, in der tatsächlich oder vermeintlich alles noch in Ordnung war. Diese Sehnsucht ist sehr oft verbunden, mit einer Suche nach Identität, die dann eher im gestern als im heute verortet wird. Auf der anderen Seite gibt es jene, die Heimat als Kitsch und Romantisierung aburteilen oder gleich den Begriff ausschließlich den Rechtspopulisten zuordnen. Ich halte letztere Haltung für kurzsichtig und falsch.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Heimat wie andere Begriffe auch inhaltlich gefüllt werden muss. Deutschland ist heute die Heimat vieler hier lebender Menschen. Jener, die hier geboren wurden und jener, die freiwillig oder auch unfreiwillig hierhergekommen sind. Gerade Deutschland zeichnet sich durch eine sehr große Vielfalt aus. Der Norddeutsche kann nicht mit dem Bayern verwechselt werden. Westfalen und Rheinländer befinden sich wie Schwaben und Württemberger erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem Bundesland. Die Vielfalt an Dialekten, an Brauchtum, an Sprachen machen Deutschland aus. Diese Vielfalt wird seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten durch Migrantinnen und Migranten bereichert, die ihrerseits zu einem großen Teil längst Franken, Ostfriesen, Sachsen oder auch Mecklenburger geworden sind.
Die Bedeutung der Heimat wird vermutlich erst in der Ferne so richtig begreifbar. Der Exilant Heinrich Heine schrieb in „Deutschland. Ein Wintermärchen“:
„Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das
Herz Recht angenehm verblute.“
Wer längere Zeit im Ausland gelebt hat, weiß, welche Bedeutung auf einmal deutsche Speisen bekommen können, welche Relevanz die deutsche Sprache hat und wie klein auf einmal die Unterschiede der kulturellen Vielfalt innerhalb Deutschlands werden. Und genauso wie es vielen Deutschen im Ausland geht, ergeht es vielen Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Auch wer längst Deutsche oder Deutscher ist, kennt die Sehnsuchtsorte der Kindheit, die Sprache und die Erzählungen der Heimat, das heimatliche Essen. Die Suche nach den Wurzeln, teilweise auch nach der Religion gehören für viele Menschen zur Auseinandersetzung mit der Heimat.
Heimat ist nichts Statisches und wahrscheinlich für jeden Menschen etwas anderes. Wenn der eine mit Heimat die norddeutsche Tiefebene assoziiert, sind es für den anderen dichte Wälder, für noch jemand anderen das Lärmen der Großstadt oder aber etwas ganz anderes. Entscheidend ist meines Erachtens, dass der Begriff „Heimat“ eben nicht missbraucht, sondern in seiner Offenheit für jede und jeden gesehen wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.