Mit der Heimat wird man nicht fertig

Das Heimatverständnis deutscher Minderheiten im östlichen Europa

 

Alfons Nossol gehört der alten Generation an, er ist ein oberschlesisches Original. Als Bischof von Opole/Oppeln hat er sich einen Namen als Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen in Schlesien, aber auch zwischen Deutschland und Polen gemacht. Nach der politischen Wende von 1989 rief der Katholik „seine“ Deutschen in Oberschlesien zum Bleiben auf. Und die nach 1945 in seine Diözese gezogenen Polen bat er, ihm zu helfen, die „verbliebene einheimische Bevölkerung“ an „unsere herrliche schlesische Erde“ zu binden, schließlich sei sie für beide Gruppen eine „wirkliche Heimat“, denn „Schlesien wäre nicht mehr Schlesien“, wenn eine der beiden Gruppen das Land verließe, wird Nossol von der Zeitung „Die Zeit“ am 4. Mai 1990 zitiert. Da über 90 Prozent der Polendeutschen in Oberschlesien leben, ist das Heimatverständnis der deutschen Minderheit in Polen nicht von dieser Region zu trennen, deren zweisprachige Wochenzeitung übrigens „Heimat“ heißt. Nossol betont in dem von Christoph Bergner und Matthias Weber 2009 herausgegebenen Band „Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland“, dass die historisch gewachsenen Kulturräume, die auch „überschaubare Erfahrungsräume der Geborgenheit“ seien, die „eigentliche Heimat“ der deutschen Minderheit darstellten. Er hebt die Bedeutung der „affektiv-emotionale(n) Identifizierung mit dem aus der Kindheit Vertrauten“ für das Heimatverständnis der Deutschen in Oberschlesien hervor und zählt dazu nicht nur die Landschaft mit ihren Erinnerungsorten, regionale Traditionen oder den lokalen Dialekt, sondern auch die prägende Rolle der katholischen Kirche. Dieser Regionalismus zeigt sich darin, dass viele Nachkommen der deutschen Oberschlesier bei Volkszählungen nicht die Kategorie „Deutsche“, sondern „Schlesier“ wählen, auch um sich dem nationalen Bekenntniszwang zu entziehen. Daher, aber auch weil bei der letzten Volkszählung nur etwa 40 Prozent der Polendeutschen angaben, Deutsch als Muttersprache zu sprechen, kann die tatsächliche Größe der deutschen Minderheit in Polen nur geschätzt werden.

 

Auch bei den Ungarndeutschen führt die Diskrepanz zwischen dem Bekenntnis zur deutschen Muttersprache und der Zuordnung zur „deutschen Nationalität“ zu einer gewissen Unschärfe bei der Erfassung der Größe der deutschen Minderheit. Diese konzentriert sich nicht in einer bestimmten Region, sondern lebt sowohl im Westen als auch im Süden Ungarns. Als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa die Hälfte der Ungarndeutschen nach Deutschland vertrieben wurde, schlugen sich fünf bis sechs Prozent von ihnen, vor allem aus der Sowjetischen Besatzungszone, illegal wieder nach Ungarn durch. Für die donauschwäbischen Bauern bedeutete die Vertreibung „einen vollständigen existenziellen Zusammenbruch“. Die Entwurzelung und der Verlust der sozialen Einbettung schmerzten stärker als die Strapazen und Entbehrungen während der Zwangsaussiedlung. „Es gab schreckliches Heimweh, ein Heimweh, wie man es sich nicht vorstellen kann“, berichtet eine Zeitzeugin in dem von Ágnes Tóth verfassten Buch „Rückkehr nach Ungarn 1946-1950“, und eine andere ergänzt: „Wir sehnten uns nach der Heimat, wo unsere Wiege stand, wir wollten nicht in ein anderes Land. (…) Wir haben uns nur heimgesehnt, nur heimgesehnt. (…) Und sie sagten immer, dass man es nicht aussprechen könne, was das Zuhause, was die Heimat bedeute. Das fühle nur das Herz“. Dass sie trotz des strengen Rückkehrverbots und oft nach mehrmaliger Ausweisung immer wieder auf abenteuerliche Weise versuchten, nach Ungarn zurückzukehren, zeigt die besondere Anhänglichkeit der donauschwäbischen Bauern zu ihrem Heimatort. Ihr Drang, in die Heimat zurückzukehren, steht aber auch für ihre Loyalität gegenüber dem ungarischen Staat, die trotz der Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierungen seit dem 19. Jahrhundert außergewöhnlich stark ausgeprägt ist. Beides drückt sich in der geringen Zahl ungarndeutscher Aussiedler aus, die ihr Land nach 1950 und auch nach 1989 in Richtung Deutschland verlassen haben.

 

Bleiben oder gehen? Diese Frage trieb auch die Rumäniendeutschen jahrzehntelang um, in den Gesprächen nach dem Sonntagsgottesdienst und anschließend zu Hause beim Mittagstisch. Die Repressionen und der Nationalismus der Ceaușescu-Diktatur hatten dazu geführt, dass sich viele Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben zunehmend fremd in der eigenen Heimat fühlten. Sie gingen, als sie gehen konnten, allein 111.000 im Jahr 1990, also etwa jeder zweite. Einige blieben trotzdem, gerade weil es „ihre“ Heimat ist – anders als jeder andere Ort auf dieser Welt. Einen Versuch, die kaum zu überblickende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Heimatverständnis der ausgereisten und vor Ort verbliebenen Rumäniendeutschen zu erfassen, unternahm die eingangs erwähnte Deutsche Gesellschaft im Jahr 2012. Auf einer Konferenz in der siebenbürgischen Universitätsstadt Cluj-Napoca/Klausenburg führte sie Forscher, Journalisten, Schriftsteller, Musiker und Maler zusammen, deren Ergebnisse 2014 von Ingeborg Szöllösi veröffentlicht wurden. Auf die Frage, was Heimat sei und wo sie gesucht werden könne, antwortete die Journalistin Beatrice Ungar pointiert: „Heute muss ich mich rechtfertigen, weil ich in meiner Heimatstadt wohne und nicht wie viele andere nach Deutschland ausgewandert bin. Es heißt, ich gehöre zu den ‚Restbeständen‘ der deutschen Minderheit in Rumänien. In diesem Zusammenhang fallen mir die Bezeichnungen wie ‚Heruntergekommene‘ für Rückkehrer und ‚Zurückgebliebene‘ für die in ihrer Heimat Verbliebenen ein. Auch bekommt man immer wieder zu hören: ‚Dort sind noch…, dort harren noch einige wenige aus…‘ Ich jedoch sage: Wir leben hier, wir harren nicht aus! (…) Auch das ist eine Definition von Heimat: Sie gehört uns! Und keiner weiß besser darüber Bescheid als wir selbst“. Am Ende der Konferenz konstatierte der Germanist Georg Aescht, dass jeder eine Heimat habe und mit ihr etwas anfangen können müsse, sei es nur, dass er sie verächtlich ignoriere. Die Bitterkeit, mit der über die unterschiedlichen Auffassungen von Heimat zuweilen gestritten werde, müsse nicht sein, denn es sei „genug Heimat für alle da, für alle zusammen und für jeden Einzelnen“. „Heimat ist ein Erlebnis auch für jenen, der glaubt, ein bisschen Brecht im Kopf und kein Brett davor reichten aus, mit dem, was da auf einen zukommt, fertig zu werden. Man wird nicht fertig damit, denn das hieße, dass man auch mit all den Menschen ‚fertig‘ wäre. Und das ist man nicht, hoffentlich noch lange nicht, nie.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

Gerald Volkmer
Gerald Volkmer ist stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Universität Oldenburg.
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