Das zwingt die Europäische Kommission mittlerweile dazu, eine neue Offenheit zu propagieren, aktiv – natürlich nur den segensreichen Nutzen des TTIP – zu kommunizieren und nun auch in Kürze eine öffentliche Konsultation zum Investitions- bzw. Investitionsschutzkapitel des angestrebten Abkommens durchzuführen. Dabei versteht die Europäische Kommission unter Transparenz die allgemeine, summarische – und eben nicht konkrete und detaillierte – Darstellung des Verhandlungsverlaufs in sogenannten Debriefings nach den jeweiligen Verhandlungsrunden sowie die Veröffentlichung von facts & figures zu verschiedenen Sachfragen. Auch hat sie mittlerweile eine Beratergruppe ins Leben gerufen, die gleichermaßen mit Vertretern industrieller und zivilgesellschaftlicher Interessen besetzt ist. Das ist immerhin etwas. Aber ist das genug? Reicht das, um einer Öffentlichkeit zu genügen, die immer offensiver Information und Mitsprache bei Entscheidungen einfordert, die ihr(e) Leben individuell und gesellschaftlich unmittelbar tangieren? Neue Tendenzen forcierter Bürgerermächtigung und -beteiligung, nicht nur in Deutschland und Europa, legen etwas Anderes nahe.
Während diese Diskussion schwelt, die Kritik an der allzu kritiklosen Bejahung von TTIP wächst, kommt bereits eine neue Kontroverse auf: Inwieweit muss eigentlich die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten, insbesondere mit einstimmigen Voten im Ministerrat, mit ins Boot holen? Inwieweit ist TTIP eigentlich ein gemischtes Abkommen, also ein Abkommen, das der Zustimmung auch aller Mitgliedstaaten bedarf? Hierzu hat kürzlich der stellvertretende Kabinettschef von EU-Handelskommissar Karel De Gucht, Frank Hoffmeister, einen Fachaufsatz veröffentlicht. Er gibt natürlich nur die „persönliche Ansicht“ des Autors wieder.
Die Kernargumente lauten wie folgt: Artikel 207 Abs. 1 AEUV (Lissaboner Vertrag) habe die Konturen der Gemeinsamen Handelspolitik erweitert. Anders als in den „halbherzigen“ Formulierungen der Verträge von Nizza und Amsterdam heiße es nun mit „erfrischender Klarheit“, dass die Union für den Handel mit Waren und Dienstleistungen, für die Handelsaspekte des geistigen Eigentums und für die ausländischen Direktinvestitionen ausschließlich zuständig sei. Anders als noch der Vertrag von Nizza sehe der Lissaboner Vertrag zunächst einmal für die Aushandlung und den Abschluss von Abkommen in diesen Bereichen das qualifizierte Mehrheitsvotum im Rat vor. Mithin soll es hier für einzelne Mitgliedstaaten über das Einstimmigkeitsprinzip im Rat keine Blockademöglichkeit mehr geben, es sei denn, bestimmte Umstände könnten doch dazu führen. „Leider“, so der Autor, habe sich dieser Integrationsfortschritt aber in der Praxis noch nicht bemerkbar gemacht.
„Die EU-Zuständigkeit ist vertraglich genau festgelegt.“
Grund dafür ist, das Abs. 4 des besagten Artikels festlegt, dass der Rat in den aufgezählten Bereichen einstimmig beschließt, wenn das betreffende Abkommen Bestimmungen enthält, bei denen für die Annahme interner Vorschriften Einstimmigkeit erforderlich ist. Und ferner heißt es dann, mit erfrischender Klarheit möchte man hinzufügen: „Der Rat beschließt ebenfalls einstimmig über die Aushandlung und den Abschluss von Abkommen in den folgenden Bereichen: a) Handel mit kulturellen und audiovisuellen Dienstleistungen, wenn diese Abkommen die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union beeinträchtigen könnten […]“.
Also „leider“ wird das doch nichts mit den Mehrheitsbeschlüssen im Rat, oder? Nein, jetzt kommt der Europäische Gerichtshof ins Spiel. Denn dieser hatte in einer anderen Sache, es ging um den Beitritt der EU zu einer Europaratskonvention, entschieden, dass die Union dabei allein zuständig sei, wenn es um Maßnahmen der „externen Harmonisierung“ im Bereich des Dienstleistungshandels gehe. Und die Tatsache, dass eine Vorschrift in der Konvention des Europarats in „marginaler Weise“ auch Angelegenheiten berühre, die im EU-Innenverhältnis Einstimmigkeit erforderlich mache, ändere daran auch nichts.
Na prima, so in etwa der Autor, „mit diesem höchstrichterlichen Spruch könne endlich ein Schlussstrich unter die leidige Frage gezogen [werden], ob die ausschließliche handelspolitische Zuständigkeit der Union ‚in die Tiefe’ begrenzt sei“. Nein, so der Autor, denn entscheidend sei nach seiner Meinung vielmehr, ob und wie sich eine Einzelvorschrift in das „Gesamtgerüst“ einer Regelung zum Dienstleistungshandel einfüge und inwieweit sie einen eigenständigen Schwerpunkt bilde. Nur im letzteren Fall wäre der Rückgriff auf ein gemischtes Abkommen, und damit auf Einstimmigkeitsregeln im Rat, überhaupt noch erforderlich.
Großartig, so denkt sich der Freund des Freihandels, dann muss sich die Europäische Kommission in diesen Fällen künftig nicht mehr mit den Eigenwilligkeiten einzelner Mitgliedstaaten herumärgern. Denn, so der Autor, „[…] ein großes Abkommen nur deswegen der Einstimmigkeit und der Ratifikationsbedürftigkeit in 28 nationalen Parlamenten zu unterwerfen, weil bestimmte […] Dienstleistungen bisher auf europäischer Ebene nicht geregelt worden sind, erscheint wenig effizient“. Schon gar nicht muss sich die Europäische Kommission dann noch mit doppelt gemischten Abkommen herumschlagen, wenn, wie etwa in Deutschland zwischen Bund und Ländern zum Beispiel in kultur- und medienpolitischen Fragen, noch weitere geteilte Zuständigkeiten auf nationaler Ebene existieren.
„Stolpersteine sind im Verhandlungsprozess vorhanden.“
Mit keinem Wort erwähnt der Autor in seinem Artikel kulturelle und insbesondere audiovisuelle Dienste. Aber genau deren Behandlung im TTIP-Prozess ist ja im hier diskutierten Kontext eine der zentralen Fragen. Sie markieren einen wesentlichen möglichen Stolperstein im Verhandlungsprozess. Die USA wollen mit TTIP ihre digitale Ökonomie stärken und fördern. Die Europäische Kommission sieht das in weiten Teilen ähnlich, ist aber, maßgeblich auf Betreiben Frankreichs, gehalten, gegenüber ihrem Verhandlungspartner an dieser Stelle grundsätzliche Vorbehalte zu formulieren. Wie schön wäre es da also, wenn die Rechtslage bzw. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eine Handhabe böte, diesen Beschränkungen für die Verhandlungsführung der Union ausweichen zu können?
Nun ja, mal abwarten, was dazu die Mitgliedstaaten und etwa im Fall Deutschlands die Bundesländer sagen werden. Abzuwarten bleibt auch, wie derartige Analysen auf die gesellschaftspolitische Legitimität der internationalen Handelsliberalisierung, hier bei TTIP, einzahlen. Oder eben gerade nicht.
Schließlich: Mit der skizzierten Logik wird im hier diskutierten Artikel auch die Notwendigkeit einer fortwährenden Mitgliedschaft der EU-Mitgliedstaaten in der WTO in Frage gestellt. Es handele sich dabei ja nur noch um ein „stark theoretisches Konstrukt“. Selbst wenn dem so wäre, stellt sich die Frage, ob die europäische Integration tatsächlich schon so weit ist? Und ist es gerade gegenwärtig unter dem Eindruck mehrerer miteinander verwobener krisenhafter Entwicklungen, global und in der EU, ratsam, dieses Fass jetzt aufzumachen? Kommt da gerade jene Sicht europäischer Funktionäre zum Ausdruck, die selbst überzeugte Europäer arg ins Grübeln bringt?
Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 02/2014 erschienen.