Kunst als Weggefährtin des Wandels

Überleben in Zeiten kultureller Entbehrung

Kunst atmet nicht im Dunkeln

 

Kunst ist wie ein Lebewesen – in dunklen, geschlossenen Räumen kann sie nicht atmen und gedeiht nicht.

 

Letzten Endes schuf diese Politik abgestumpfte, desorientierte Menschen, die nicht mehr wussten, was sie wollten. Sie schuf eine Kulturelite, die verärgert und wütend war ob der zermürbenden und teils erniedrigenden Vorschriften und Verbote. Jede Privatperson oder kulturelle Einrichtung, die plante, ein Seminar oder eine Lesung zu organisieren, verzweifelte zwangsläufig daran und gab schließlich erschöpft auf. Viele zogen sich komplett zurück, reisten, stellten ihre Produktionen ein, manche verfielen einer Suchterkrankung. Viele Künstler gingen nur noch ihrem normalen Arbeitsalltag nach und legten ihre kreativen Projekte auf Eis.

 

Das ideologische, autoritäre, unilaterale, religiöse Denken schuf Institutionen, Künstler, Schriftstellerinnen, Dichter und Malerinnen, die diejenigen ersetzten, die nicht einer Meinung mit ihm gewesen waren. Sie bauten Theater ohne Substanz und ohne Publikum, improvisierten Jahr für Jahr oberflächliche Festivals voll Tanz und leerem Glanz. Sie gaben Millionen aus für kulturelle Zurschaustellungen ohne Hand und Fuß. Es wurden Kulturprogramme und Dramen produziert, die eine einzig wahre, zentrale Kultur feierten, und alle anderen Facetten der sudanesischen Kultur marginalisierten.

 

Hoffnung auf eine die Kunst unterstützende Kulturpolitik

 

Ein Wandel im Umgang mit der Kunst war nur mit einem politischen Wandel in den höchsten Zirkeln der Macht möglich. Für die Schriftstellerinnen, Dichter und Kunstschaffenden war die Unterzeichnung des umfassenden Friedensabkommens 2005 für den Sudan ein Hoffnungsschimmer. Wir spürten einen Hauch von Freiheit und einige Institutionen kehrten zurück, darunter der Sudanesische Schriftstellerverband. Es gab wieder offene Diskussionsrunden und kritische Zeitungen. Die Sudanesinnen und Sudanesen dürstete es nach relevanten Kulturaktivitäten und Inhalten.

 

Seit der Revolution im Dezember 2018 hoffen wir auf einen noch umfassenderen Wandel. Vom Ministerium für Kultur und Information erhielten wir unsere Rechte zurück und mussten nicht mehr um Erlaubnis fragen oder uns mit bürokratischen Prozessen herumschlagen. Wir durften wieder unsere Rolle als Künstlerinnen und Künstler einnehmen und uns frei ausdrücken. Eine der guten Nachrichten dieses neuen Zeitalters war die Ankündigung der Obersten Aufsichtsbehörde für Literatur, sämtliche Werke, die in der Vergangenheit beschlagnahmt und verboten worden waren, freizugeben. Darunter war auch eines meiner Bücher. Zudem entschuldigte sie sich bei den Verlagen und Autoren, ein Schritt, der bei einigen Künstlern und Autoren die Hoffnung und Wertschätzung wiederhergestellt hat. Diese Entwicklungen zeigen, dass Kunst und Wandel in ihrer Beziehung zum Individuum und zur Macht miteinander verbunden sind.

 

Nach dieser schmerzhaften Darstellung der jüngeren Vergangenheit stellt sich die Frage: Braucht der Sudan heute eine Kulturpolitik? Soweit ich weiß, hat es im Sudan noch nie eine Kulturpolitik gegeben, die Ausübung, Produktion, Präsentation und Unterstützung aller Künste koordiniert hat. Noch nie gab es einen sichtbaren Plan, das kulturelle Erbe zu schützen oder regionale Sprachen wiederzubeleben. Kulturpolitik muss gut durchdacht und partizipativ gestaltet sein, sodass sich alle Beteiligten in der praktischen Umsetzung repräsentiert fühlen. Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass die Sudanesinnen und Sudanesen in den vergangenen 30 Jahren kontinuierlich manipuliert wurden und versucht wurde, ihre Erinnerung mit unmündiger Ersatzkultur zu verwässern. Es braucht Zeit, um von einer Person, die ihre kulturelle Identität bislang verabscheut hat, wieder zu einer Person zu werden, die mit Stolz auf ihre lokale Kulturszene blickt.

 

Als gleich drei sudanesische Filme auf internationalen Filmfestivals gewannen, rückte der Sudan völlig zu Recht ins globale Rampenlicht. Früher wären diese Werke beschlagnahmt und vernichtet worden. Im Zuge dieses politischen Wandels schuf die Kunst eine wehrhafte Generation. Dazu befeuerten soziale Medien und elektronische Zeitungen im Zuge der technologischen Revolution die Verbreitung von zuvor Verbotenem. Dies alles ist als klare Kritik am Zivilisierungsprojekt zu verstehen, gegen das die Massen auf die Straßen gegangen und welches sie am 11. April 2019 gestürzt haben.

 

Die Kunst ist auch weiterhin als Weggefährtin und Förderin des Wandels gefragt und Schutzherrin der Träume von Künstlern und Bürgern. Allen, die bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen, bereitet sie den Weg zu persönlichem Wachstum und Weiterentwicklung. Ohne Angst vor dem, was anders ist, ohne Minderheiten zu bedrohen, erschafft Kunst Gesellschaften, die die Rechte der anderen schützen, ihre Kulturen respektieren, sie willkommen heißen, sie ermutigen und ihnen eine Plattform bieten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

Stella Gaitano
Stella Gaitano ist Pharmazeutin und mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie wuchs in Khartum auf, lebt aber seit der Gründung des Südsudan in Juba.
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