Geschichten aus den Kästchen

Bericht aus dem Workshop "Ihre Geschichten"

„Ich bin die Geschichte, ich bin Zeinab, das Lachen, das von Herzen kommt. Das Kind, das selber zweifache Mutter wird. So wie es für den Menschen Lektionen zu lernen gibt, so erhält der Mensch auch hier und da einen Klaps.“

 

„Ich bin Queen S., mächtiger Ceausescu, das Zwillingsmädchen aus Ober­ägypten, das bekommt, was es will. Vater ist morgens Offizier und nachmittags auf unserem Feld in den Bergen. Mutter ist Professorin an der Universität in einem anderen Gouvernement. Ihre Arbeit und Forschung sind ihr das Wichtigste im Leben. Ich bin Schaimaa, auch Schuschu genannt, besondere Kräfte kannst du nicht zurückhalten.“

 

„Ich bin Alaa: Ich bin geheimnisvoll, ich hasse die Einsamkeit und liebe mit all meiner Kraft. In der Zeit der Trauer bin ich schwächer, als ihr es euch vorstellen könnt. Doch wenn sich die Trauer lichtet, werde ich eine Kraft in mir tragen, dass es niemand wagen wird, mir zu nahe zu kommen … Wenn der LKW vorbeirauscht, jaulen die Hunde … Bereue nicht den Krieg, der dich stark gemacht hat.“

 

So wie das Schreiben waren auch die Diskussionen untrennbar mit den persönlichen Perspektiven der Frauen auf die Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie sich in ihr bewegen, verknüpft.

 

„Sobald ein Mädchen geboren wird, gesellen sich einige Dinge zu ihr, beispielsweise: Schäm dich! Das gehört sich nicht für ein Mädchen … als wäre sie stigmatisiert. Was mich aus diesem Trauerspiel herausholt, ist, dass ich Menschen vorlese, die mir ähnlich sind: verärgert und gewillt, sich zu ändern. Ich schreibe über das, was mich im Innersten bewegt, über meine Träume, mein Äußeres und meine Ideen. Denn wenn die Gesellschaft mich drängt und mich verformen will, dann erinnere ich mich daran, wer ich bin und finde zu mir zurück“«, erzählt Asma, dann hören wir Hind:

 

„Ich bin Hind, Nubierin aus Assuan. Ich vereine in mir Teile des Oberägyptischen, der Al-Hilali-Region um Sohag und des Nubischen. Wir befinden uns im Land der Klassifikationen, obwohl ich dies überhaupt nicht leiden kann. Ich bin Nubierin, ein Kind der Vertreibung, genau genommen komme ich aus Ballana. Ich bin nicht wie die anderen Vertriebenen, vermutlich, weil ich weit weg in Assuan lebe. Ich trage viel der oberägyptischen Mentalität in mir, habe aber auch viel von den Leuten in Assuan übernommen. Haitham, mein Verlobter, sagt: ‚Sorge dich nicht, wenn wir heiraten, wirst du meine Königin sein. Ich liebe dich mit all deinen Ecken und Kanten‘. Oh ja. Ich habe Ecken und Kanten und ich liebe die Traurigkeit.“

 

Die Teilnehmerinnen sprachen über Leid und Reife, von der Kindheit und der Freude am Spiel. In einem Meeting wurde geweint, im nächsten konnten wir nicht aufhören zu lachen. In der Pause begann Hagar zu singen und Alaa und Youmna stimmten mit ein. Wir entdeckten, was für eine tolle Stimme Zeinab hat und Hafsa begleitete uns auf der Daf.

 

Dann ist Mirna an der Reihe, sich vorzustellen: „Ich bin Mirna Lawendy. Ich liebe das Essen über alles und ich liebe meine Familie, Amr Diab und meine Arbeit. Sie nennen mich Tochter des Todes, denn als meine Mutter mit mir schwanger war, wollte sie abbrechen. Doch ich war sehr sanft und unkompliziert und so kam ich auf die Welt. Nach meiner Geburt bekam ich schweres Gelbfieber, danach war ich zwei Jahre lang krank. Dann wurde ich von einem großen Skorpion gestochen und noch im selben Jahr fiel ich in den Kanal.“

 

Halas Geschichte handelte von Verlust. Während des Workshops erzählte sie uns, dass sie zum ersten Mal wieder farbige Kleidung trägt, nachdem sie lange Zeit nur Schwarz getragen hatte. Hala, die sich selbst als „Cinderella mit schwarz geschminkten Augen“ bezeichnet, lebte neu auf. Obwohl manchmal noch die Traurigkeit in ihren Blick zurückkehrte, hat sie mit ihrer Anwesenheit die Gruppe aufgeheitert. „Ich bin die Tochter meines Vaters, Badri. Ich bin Hala, Mutter, Schwester, Tochter, Ehefrau, Kind. Ich kann meinen Liebsten keine Bitte ausschlagen. Ich bin Hala. Ich fülle das Haus mit Lachen und Freude und schminke meine Augen tiefschwarz. Ich wuchs auf und heiratete, bekam die süßesten Kinder und meine Freunde nannten mich Cinderella. Als mein Vater starb, konnte ich nicht aufhören zu weinen. Es war, als wäre mir mein Herz herausgerissen worden. Ich zerbrach innerlich, als ich ihn in seinem Leichentuch sah.“

 

Ein Satz von Hagar blieb uns allen im Gedächtnis und wir sangen ihn zu Hagars eigener Melodie, dann zu Melodien von Randa, Shaimaa, Alaa und Mirna. Schließlich sangen wir ihn noch ein letztes Mal zu einer Melodie, die Hafsa auf einer Fünftonskala komponiert hatte: „Ich bin nicht schwach, ich habe bloß all die verderblichen Bedürfnisse des Lebens.“ Hagar beendete ihre farbenfrohe Geschichte mit einer professionellen Gesangsvorführung einiger Lieder aus den achtziger Jahren und ein paar Sätzen, die sie einmal für National Geographic geschrieben hatte: „Ich bin viel gefallen, ich falle und stehe wieder auf. Vielleicht falle ich ein weiteres Mal, dann stehe ich ein weiteres Mal auf. Ich bin stark, ich bin kämpferisch. Alles ist in seiner Hand, die Zeit und die Menschen sind in seiner Hand.“

 

In den letzten Stunden, bevor wir auseinandergehen würden, entspann sich eine Diskussion zwischen Alaa und Youmna. Alaa sprach von den mangelnden Möglichkeiten und wie schwierig es sei, ausreichend Interessenten zusammenzubringen, um eine Aufführung der Geschichten zu organisieren. Insbesondere, da es für so etwas so gut wie keine finanziellen Mittel gebe.

 

Alaa ist eine erstklassige Geschichtenerzählerin, ausgesprochen talentiert, sie hat Erfahrung und eine gewisse Leichtigkeit, ist intelligent und geschickt. Youmna, Anfang 20, ist gleichermaßen professionell, aber sie interessiert sich nicht für das Geschichtenerzählen an sich. Sie nahm an dem Workshop teil, weil sie etwas Neues lernen, sich ausprobieren und Erfahrung sammeln wollte. Und doch entgegnete sie Alaa mit größtem Selbstbewusstsein: Wenn man etwas wolle, dann könne man es auch erreichen, selbst mit wenigen Mitteln. Die Diskussion lief noch eine Weile fort und vielleicht ist in unseren Treffen eine echte, positive Energie entstanden, die uns antreiben wird weiterzumachen. Wie alle talentierten Menschen warten diese Frauen auf eine Gelegenheit. Werden sie sie für sich erschaffen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Salam Yousry
Salam Yousry lebt als multidisziplinärer Künstler in Kairo. Seit 2010 leitet er zudem Workshops in den Bereichen Songwriting und Performance im Nahen Osten, Europa und den USA.
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