Geschichten aus den Kästchen

Bericht aus dem Workshop "Ihre Geschichten"

„Freundinnen in Kästchen. Kästchen, fragen Sie? Ja, in den Kästchen bei Zoom. Wir waren Frauen, wir lebten, lehrten, lernten. Doch dann suchte uns ein Dämon heim, er heißt: Corona. Aus Angst stecken wir nun in Kästchen.

 

Wissen Sie, was es bedeutet, Vögel, die in die Ferne streben, einzufangen und in einen Kasten zu sperren?

 

Ich werde die Geschichten von Frauen erzählen, die voller Energie und Lebensfreude waren, die aus dem Haus gingen und viele andere Menschen trafen. Frauen, deren Herzen hoffnungsvoll waren. Es ist keine Geschichte über die Sorgen dieser Welt. Denn die haben wir hinter uns gelassen, in unseren Kästchen müssen wir lachen, damit das Bild gut aussieht, nicht wahr?“

 

So erzählte Hafsa von ihrem Treffen mit Hala, Hagar, Mirna, Riham, Randa, Zeinab, Hind, Youmna, Asma, „Queen S“, Alaa, Asmaa und mir: Salam. Oder „Salami“, „mein Friede“, wie mich Asmaa gleich am ersten Tag des Workshops nannte.

 

Ich bin Salam. Ich komme aus Kairo und bin ein Reisender in den Geschichten anderer. Irgendwo zwischen Gesang, Schreiben, Schauspiel, Tanz und Malerei. Heute bin ich in der Rolle des Moderators, mitten unter dreizehn Frauen im Alter zwischen 19 und 40 Jahren. Sie stammen aus den ägyptischen Städten Al-Minya, Sohag und Assuan und sind in einem Workshop zusammengekommen, um ihre Geschichten zu erzählen. Ich beschäftige mich seit 2007 mit dem Erzählen persönlicher Geschichten und habe überall auf der Welt, in Dörfern und Großstädten, mit unterschiedlichen Gruppen gearbeitet. Das Geschichtenerzählen als Zugang zum künstlerischen Schaffen habe ich gewählt, weil es direkter Ausdruck der gelebten Erfahrung einer Person ist, und man sich dadurch umfassend und tiefgründig kennenlernt. Die verschlungenen Pfade eines Menschenlebens sind für mich wie eine Quelle, aus der ich Kraft schöpfe.

 

Die Moderation dieses Workshops übernehmen zu dürfen, freute mich sehr. Normalerweise hätte wohl eher eine Moderatorin einen Workshop mit dreizehn Teilnehmerinnen geleitet. Doch hier war ich nun und die Frauen haben mich viel gelehrt.

 

Ich begann das neue Jahr mit einem digitalen Meeting und dem Ziel, die Workshopteilnehmerinnen auch einmal offline kennenzulernen. Wir hatten uns bereits den ganzen Monat lang auf Zoom getroffen und waren uns einig, dass wir unsere Treffen fortsetzen wollten.

 

Der Workshop „Ihre Geschichten“ wurde im November und Dezember 2020 vom Goethe-Institut organisiert. Auf die Ausschreibung hatten sich Dutzende Bewerberinnen aus verschiedenen Regionen Ägyptens gemeldet, aus denen die Teilnehmerinnen ausgewählt wurden. Es waren 30 Stunden für den Workshop angesetzt, aufgeteilt auf zehn Termine. Wir wollten die Frauen so kennenlernen, wie sie sich selbst sehen, in ihrem persönlichen Umfeld zu Hause. Nicht aus der Perspektive der Medien oder den Theorien irgendeiner Forscherin bzw. irgendeines Forschers. In den zehn Sitzungen zeigten uns die Teilnehmerinnen, wie sie ihre Umgebung wahrnehmen, wenn sie aus dem Fenster schauen, und inwiefern sie sich von der Welt, in der sie leben, wahr- und angenommen fühlen. Ohne die individuellen Erfahrungen als solche „der Oberägypterinnen“ zu verallgemeinern, sollte vielmehr das Bild einer Frau aus dreizehn Facetten zusammengesetzt werden. Sie hofft auf eine bessere Zukunft, lernt mit ihrer Stärke und der Macht ihrer Stimme Veränderung herbeizuführen. Sie handelt und hat Einfluss. Sie akzeptiert die Umstände, in denen sie lebt, aber gibt ihnen nicht klein bei. Und jedes Mal begrüßten wir uns mit denselben Worten: „Ihr habt mir gefehlt!“.

 

„Wir versuchen es immer noch … immer noch habe ich mein Haus nicht gesehen … die Stimme meiner Gedanken ist lauter als die Eisenbahn … die Stimme der Leute im Zug ist lauter als die Stimme meiner Gedanken, ich laufe mit dem Zug um die Wette … ich renne, so lange, bis mich jemand stoppt …“, beschreibt Youmna.

 

Ich erinnere mich, dass Asmaa an unserem achten Termin nur eingeschränkt teilnehmen konnte, denn eine Maus hatte sich zum Frühstück ihr Internetkabel vorgeknöpft und es zerbissen. „Ich bin Asmaa, Tochter des Hagg Mustafa Al-Sayyd. Ich bin wie der Herbst, in dem die Blätter der Bäume zu Boden fallen und sich zersetzen, um dann neues Leben hervorzubringen. Ich hasse Streitereien und Kriege und liebe Fairuz. Meine Tage verbringe ich zwischen meinen Büchern und Magazinen. Ich liebe es, der tiefen, beruhigenden Stimme meines Vaters zuzuhören. Ich lache mit den Kindern, die mich überreden, mit ihnen zu spielen. Ich fühle mich immer noch sehr jung.“

 

Die Frauen erzählten vom Schmerz des Verlustes, von Unfällen, dem Widerstand, vom abgeschlossenen Bildungsweg, der Unabhängigkeit, der Ehe und der Scheidung, von der Bindung an Vater und Familie, dem Dorf, der Beziehung zur Umwelt, dem Nil, von Selbstvertrauen, den persönlichen Errungenschaften, dem Gesang, dem Essen, der Mitarbeit in der Kirche, der Spiritualität, von Radiosendungen und Schwarz-Weiß-Filmen, Ahmed Zeki, den Hausarbeiten, dem Tee, dem Morgengebet, von überlieferten Sprichwörtern, von Zecken, den Dialekten, Kairo, von Theaterstücken und Aufführungen, der Poesie, dem Gelächter, von schwarz geschminkten Augen, den Kindern, der Mutterschaft, der Straße, von Vorträgen, der Stunde, der Zeit, der Stimme, von Rhythmus, von Performances, Mohamed Mounir, von Zugfahrten, dem Reisen, dem Studium, den Freunden, vom Partner. Oft waren die Vorträge aufgrund der schlechten Internetverbindung holprig.

 

„Warum gibt es den Tod? Warum gibt es Schmerz? Warum bin ich manchmal auf alles wütend? Wie finden wir Sicherheit im Leben? Ich bin Riham: In mir ist Leere, die ich füllen will mit dem, was das Leben zu bieten hat. Ich weiß, dass der Kampf zwischen Liebe und Angst in meinem Inneren mein Leben bestimmt, und ich weiß, dass die Natur sich kraftvoll ihren Weg in die Unendlichkeit bahnt.“

 

Die Geschichten waren universell und lokal zugleich, die Fragen menschlich in ihrer Generalität, die Ideen inspirierend in ihrer Spezifität.

 

Wir konzentrierten uns auf das Schreiben persönlicher Geschichten und diskutierten das Bewusstsein dafür, den Rhythmus einer Erzählung nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Teilnehmerinnen schrieben Witze mit vier verschiedenen Enden: komisch, melodramatisch, tragisch und scherzhaft. Sie schrieben eine dialogbasierte Geschichte und sahen, welche Wirkung die Dialoge haben. Sie lernten, die Charaktere sowie den Ort der Handlung zu beschreiben. Sie verfassten einen persönlichen Bericht, in dem sie ihre Sicht auf die Welt darlegten. Und schließlich schrieben die Frauen ihre Lebensgeschichte nieder, in der sie in zehn Abschnitten die einflussreichsten Ereignisse ihres Weges schilderten. Die Abstraktion ließ viel Spielraum für Details.

„Ich bin die Geschichte, ich bin Zeinab, das Lachen, das von Herzen kommt. Das Kind, das selber zweifache Mutter wird. So wie es für den Menschen Lektionen zu lernen gibt, so erhält der Mensch auch hier und da einen Klaps.“

 

„Ich bin Queen S., mächtiger Ceausescu, das Zwillingsmädchen aus Ober­ägypten, das bekommt, was es will. Vater ist morgens Offizier und nachmittags auf unserem Feld in den Bergen. Mutter ist Professorin an der Universität in einem anderen Gouvernement. Ihre Arbeit und Forschung sind ihr das Wichtigste im Leben. Ich bin Schaimaa, auch Schuschu genannt, besondere Kräfte kannst du nicht zurückhalten.“

 

„Ich bin Alaa: Ich bin geheimnisvoll, ich hasse die Einsamkeit und liebe mit all meiner Kraft. In der Zeit der Trauer bin ich schwächer, als ihr es euch vorstellen könnt. Doch wenn sich die Trauer lichtet, werde ich eine Kraft in mir tragen, dass es niemand wagen wird, mir zu nahe zu kommen … Wenn der LKW vorbeirauscht, jaulen die Hunde … Bereue nicht den Krieg, der dich stark gemacht hat.“

 

So wie das Schreiben waren auch die Diskussionen untrennbar mit den persönlichen Perspektiven der Frauen auf die Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie sich in ihr bewegen, verknüpft.

 

„Sobald ein Mädchen geboren wird, gesellen sich einige Dinge zu ihr, beispielsweise: Schäm dich! Das gehört sich nicht für ein Mädchen … als wäre sie stigmatisiert. Was mich aus diesem Trauerspiel herausholt, ist, dass ich Menschen vorlese, die mir ähnlich sind: verärgert und gewillt, sich zu ändern. Ich schreibe über das, was mich im Innersten bewegt, über meine Träume, mein Äußeres und meine Ideen. Denn wenn die Gesellschaft mich drängt und mich verformen will, dann erinnere ich mich daran, wer ich bin und finde zu mir zurück“«, erzählt Asma, dann hören wir Hind:

 

„Ich bin Hind, Nubierin aus Assuan. Ich vereine in mir Teile des Oberägyptischen, der Al-Hilali-Region um Sohag und des Nubischen. Wir befinden uns im Land der Klassifikationen, obwohl ich dies überhaupt nicht leiden kann. Ich bin Nubierin, ein Kind der Vertreibung, genau genommen komme ich aus Ballana. Ich bin nicht wie die anderen Vertriebenen, vermutlich, weil ich weit weg in Assuan lebe. Ich trage viel der oberägyptischen Mentalität in mir, habe aber auch viel von den Leuten in Assuan übernommen. Haitham, mein Verlobter, sagt: ‚Sorge dich nicht, wenn wir heiraten, wirst du meine Königin sein. Ich liebe dich mit all deinen Ecken und Kanten‘. Oh ja. Ich habe Ecken und Kanten und ich liebe die Traurigkeit.“

 

Die Teilnehmerinnen sprachen über Leid und Reife, von der Kindheit und der Freude am Spiel. In einem Meeting wurde geweint, im nächsten konnten wir nicht aufhören zu lachen. In der Pause begann Hagar zu singen und Alaa und Youmna stimmten mit ein. Wir entdeckten, was für eine tolle Stimme Zeinab hat und Hafsa begleitete uns auf der Daf.

 

Dann ist Mirna an der Reihe, sich vorzustellen: „Ich bin Mirna Lawendy. Ich liebe das Essen über alles und ich liebe meine Familie, Amr Diab und meine Arbeit. Sie nennen mich Tochter des Todes, denn als meine Mutter mit mir schwanger war, wollte sie abbrechen. Doch ich war sehr sanft und unkompliziert und so kam ich auf die Welt. Nach meiner Geburt bekam ich schweres Gelbfieber, danach war ich zwei Jahre lang krank. Dann wurde ich von einem großen Skorpion gestochen und noch im selben Jahr fiel ich in den Kanal.“

 

Halas Geschichte handelte von Verlust. Während des Workshops erzählte sie uns, dass sie zum ersten Mal wieder farbige Kleidung trägt, nachdem sie lange Zeit nur Schwarz getragen hatte. Hala, die sich selbst als „Cinderella mit schwarz geschminkten Augen“ bezeichnet, lebte neu auf. Obwohl manchmal noch die Traurigkeit in ihren Blick zurückkehrte, hat sie mit ihrer Anwesenheit die Gruppe aufgeheitert. „Ich bin die Tochter meines Vaters, Badri. Ich bin Hala, Mutter, Schwester, Tochter, Ehefrau, Kind. Ich kann meinen Liebsten keine Bitte ausschlagen. Ich bin Hala. Ich fülle das Haus mit Lachen und Freude und schminke meine Augen tiefschwarz. Ich wuchs auf und heiratete, bekam die süßesten Kinder und meine Freunde nannten mich Cinderella. Als mein Vater starb, konnte ich nicht aufhören zu weinen. Es war, als wäre mir mein Herz herausgerissen worden. Ich zerbrach innerlich, als ich ihn in seinem Leichentuch sah.“

 

Ein Satz von Hagar blieb uns allen im Gedächtnis und wir sangen ihn zu Hagars eigener Melodie, dann zu Melodien von Randa, Shaimaa, Alaa und Mirna. Schließlich sangen wir ihn noch ein letztes Mal zu einer Melodie, die Hafsa auf einer Fünftonskala komponiert hatte: „Ich bin nicht schwach, ich habe bloß all die verderblichen Bedürfnisse des Lebens.“ Hagar beendete ihre farbenfrohe Geschichte mit einer professionellen Gesangsvorführung einiger Lieder aus den achtziger Jahren und ein paar Sätzen, die sie einmal für National Geographic geschrieben hatte: „Ich bin viel gefallen, ich falle und stehe wieder auf. Vielleicht falle ich ein weiteres Mal, dann stehe ich ein weiteres Mal auf. Ich bin stark, ich bin kämpferisch. Alles ist in seiner Hand, die Zeit und die Menschen sind in seiner Hand.“

 

In den letzten Stunden, bevor wir auseinandergehen würden, entspann sich eine Diskussion zwischen Alaa und Youmna. Alaa sprach von den mangelnden Möglichkeiten und wie schwierig es sei, ausreichend Interessenten zusammenzubringen, um eine Aufführung der Geschichten zu organisieren. Insbesondere, da es für so etwas so gut wie keine finanziellen Mittel gebe.

 

Alaa ist eine erstklassige Geschichtenerzählerin, ausgesprochen talentiert, sie hat Erfahrung und eine gewisse Leichtigkeit, ist intelligent und geschickt. Youmna, Anfang 20, ist gleichermaßen professionell, aber sie interessiert sich nicht für das Geschichtenerzählen an sich. Sie nahm an dem Workshop teil, weil sie etwas Neues lernen, sich ausprobieren und Erfahrung sammeln wollte. Und doch entgegnete sie Alaa mit größtem Selbstbewusstsein: Wenn man etwas wolle, dann könne man es auch erreichen, selbst mit wenigen Mitteln. Die Diskussion lief noch eine Weile fort und vielleicht ist in unseren Treffen eine echte, positive Energie entstanden, die uns antreiben wird weiterzumachen. Wie alle talentierten Menschen warten diese Frauen auf eine Gelegenheit. Werden sie sie für sich erschaffen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Salam Yousry
Salam Yousry lebt als multidisziplinärer Künstler in Kairo. Seit 2010 leitet er zudem Workshops in den Bereichen Songwriting und Performance im Nahen Osten, Europa und den USA.
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