Die Kunst des Geschichtenerzählens

Oralität in Afrika

Der afrikanische Kontinent ist in hohem Maße von mündlicher Weitergabe – der sogenannten „Oralität“ – geprägt. Insbesondere traditionelles Wissen wie beispielsweise Fragen des Zusammenlebens, der Heilkunde, Landwirtschaft, Initiationsriten sind meist nicht schriftlich verfasst und werden von einer Generation zur anderen mündlich weitergegeben. Das Gleiche gilt auch für andere Arten von Erzählungen wie etwa Mythen, Fabeln, Legenden und Märchen, Gebets- und Orakeltexte. Der Einfluss dieser Art der Wissensweitergabe ist in vielen Bereichen des Lebens deutlich spürbar und viele – auch städtische – Gesellschaften sind stark von ihr geprägt. Menschen, die selbstverständlich lesen und schreiben können und in ihrem Alltag beide Kulturtechniken benutzen, bevorzugen eher das persönliche Gespräch als die Nutzung schriftlicher Informationsquellen in gedruckter oder elektronischer Form. Dabei wird dem gesprochenen Wort oft eine höhere Glaubwürdigkeit zugestanden und besitzt im Bewusstsein der Menschen einen höheren Wert.

 

Aus einem eurozentrischen Verständnis heraus wird Literalität oft als Kulturstandard betrachtet, orale Kulturen werden mit ihr kontrastiert und an ihr gemessen. Die Kultur der mündlichen Weitergabe folgt jedoch eigenen Gesetzen und Regeln, kennt ganz individuelle, höchst künstlerische Formen und Ausprägungen. Ihr Charakter sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung lassen sich nicht von der Schriftkultur her beurteilen oder ermessen.

 

In vielen afrikanischen Staaten bestehen die traditionelle und die moderne Gesellschaft nebeneinander. Beiden Gesellschaften sind bestimmten Wertigkeiten zugeordnet und ihre parallele Existenz führt immer wieder zu Missverständnissen.

 

Zu diesen Fragen forscht Massamba Guèye aus dem Senegal. Guèye ist Wissenschaftler, Schriftsteller, Erzähler, Lyriker und Literaturkritiker. Er ist Leiter und Gründer von „Kër Leyti, dem Haus für Oralität und Erbe“, einem Zentrum für die Pflege der mündlichen Überlieferung und des kulturellen Erbes. Er ist Nationaler Referent der Konvention für immaterielles Kulturgut 2003 der UNESCO und ehemaliger künstlerischer Experte der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF) bei der Internationalen Kommission des frankophonen Theaters. Außerdem produziert, leitet und moderiert er im Sender RSI – Radio Sénégal Internationale. In mehreren Ländern in Europa, Amerika und Afrika tritt er als Geschichtenerzähler auf. Auf Bezirksebene war er nationaler Koordinator des Projekts für die Sammlung von Geschichten und die Ausarbeitung mehrsprachiger Handbücher: „Multikulturalität und Mehrsprachigkeit“ und „Die Stimme Afrikas“. Außerdem ist Massamba Guèye Autor verschiedener Publikationen. Im Gespräch mit Stefanie Kastner beleuchtet Guèye verschiedene Facetten der mündlichen Überlieferung in Afrika.

 

Stefanie Kastner: Herr Guèye, Sie sind im Senegal und darüber hinaus als „Die Stimme Afrikas“ bekannt, als Geschichtenerzähler im Fernsehen und Radio. Aber Sie sind auch ein Griot, das heißt ein Informationsmanager der mündlichen Gesellschaft. Sie konservieren die Geschichte des Dorfes, um Werte und Wissen an die Dorfgemeinschaft zu vermitteln. Was ist der Unterschied? Was bedeutet es, ein Griot zu sein?

Massamba Guèye: Ein Griot zu sein, das kann als genetischer Status verstanden werden, der von den Eltern vererbt wird. Ein Geschichtenerzähler hingegen ist die Bezeichnung für eine gesellschaftliche und/oder berufliche Tätigkeit. Ein Griot ist man aufgrund seiner Eltern, man kann dann Musiker, Sänger, Tänzer, Ahnenforscher, Geschichtsschreiber oder – in unserer modernen Gesellschaft – Arzt, Lehrer oder sogar Premierminister oder Präsident seines Landes werden. Aber was auch immer seine Funktion ist, ein Griot ist man aufgrund der eigenen Familienzugehörigkeit, durch den Vater und die Mutter, aufgrund der DNA. In Westafrika jedoch, im Senegal, können Geschichtenerzähler auch eine soziale Gruppe sein, weil das Geschichtenerzählen ein demokratisches Genre ist, das ja jeder, unabhängig von sozialem Rang oder Abstammung, in der Familie oder im öffentlichen Raum praktizieren kann. Der Geschichtenerzähler aus einer Griot-Familie hat den Vorteil, dass er aus einer Familie kommt, die die Redekunst beherrscht und die auch von der Gesellschaft als Träger des Wortes anerkannt wird. Was mich betrifft, so ist meine Mutter Guissé, also Tochter von Maabo, Leyti Guissé, Geschichtsschreiber am alten Königshof von Djolof. Mein Vater aber, der von Beruf Krankenpfleger war, ist aufgrund seines Vaters Schmied. Aufgewachsen bin ich zwischen Amboss und Rhetorik.

 

Welche Rolle spielt die mündliche Überlieferung heute in Senegal, in Afrika und in der Welt? 

Trotz der Schulen und dem Aufkommen der Schrift ist die senegalesische Gesellschaft stark in der mündlichen Überlieferung verwurzelt. Die Senegalesinnen und Senegalesen glauben eher, was gesagt als was geschrieben wird. Wenn Sie ein Plakat im Lehrerzimmer aufhängen, ist es nicht ungewöhnlich, dass Sie aufgefordert werden, zu sagen, was darauf geschrieben steht, anstatt selbst aufzustehen und das Plakat zu lesen. Sehr beliebt sind Radiosender, weil hier alles über das gesprochene Wort läuft. Trotz der Bedeutung des geschriebenen Wortes ist die mündliche Kommunikation unerlässlich. Wenn Sie jemandem Ihr Wort geben, so bedeutet das viel mehr als eine Unterschrift in einem Dokument. Deshalb fiel der scheidende Präsident im Jahr 2012 dem Slogan „wax waqet“ – eine Aussage treffen und eine Aussage widerrufen – zum Opfer. Als er sagte, er würde für eine dritte Amtszeit kandidieren, obwohl er zuvor gesagt hatte, dass er nur zwei Amtszeiten amtieren würde, hat er viel an Glaubwürdigkeit verloren. Mit Anwendungen wie WhatsApp kommunizieren Menschen mündlich, in ihrer Muttersprache, was die mündliche Weitergabe fördert, während man früher, wenn man nicht lesen konnte, keinen Brief schreiben konnte. In Afrika ist die mündliche Überlieferung zu neuem Leben erwacht, im Rest der Welt hingegen dominiert das geschriebene Wort. Was betont werden muss, ist, dass das gesprochene Wort ganz allgemein zur Grundlage von Führung geworden ist. Rhetorikschulen für öffentliches Sprechen vervielfachen sich: Wenn man weiß, wie man in der Öffentlichkeit spricht, so ist das heutzutage ein großer Vorteil, und zwar überall auf der Welt, denn Kommunikation ist das Herzstück von Unternehmen.

 

Hat die Situation mit der Covid-19-Pandemie der mündlichen Weitergabe oder den Geschichtenerzählern geschadet?

Geschichtenerzähler sind Künstler, die arbeiten, wenn sich Menschen versammeln, um ihnen zuzuhören. Nun hat die Covid-19-Pandemie den menschlichen Kontakt aufgrund der notwendigen sozialen Distanzierung untersagt. Das hat zur Folge, dass Geschichtenerzähler seit über einem Jahr kaum noch direkt zu ihrem Publikum gesprochen haben. Aufführungen und Festivals wurden allesamt abgesagt und Wiederaufnahmen erfolgen nur zaghaft. Einige Geschichtenerzähler haben begonnen, Geschichten in den sozialen Netzwerken oder durch Videos zu verbreiten, aber beim wirklichen Geschichtenerzählen geht es vom Mund ins Ohr, auch wenn ich Geschichten im Fernsehen und Radio erzähle. Das ultimative Ziel ist es, dass die Leute mich als Person in natura erleben. Die Pandemie hat die Popularität des Geschichtenerzählens in der Welt gebremst. Für alle Erzählzentren ist das ein schrecklicher Verdienstausfall, auch für das „Haus des Erzählens“ und des Weltkulturerbes.

Das Mündliche und das Schriftliche sind zwei unterschiedliche Systeme der Informations- und Wissensspeicherung. Wo sich beide treffen, entstehen gelegentlich Probleme. Was kann man tun, um Missverständnisse zu vermeiden und die Kluft zwischen beiden zu überbrücken?

Oft stellen wir das Schriftliche und das Mündliche als unterschiedliche Systeme der Information und Wissenserhaltung einander gegenüber, zu Recht oder zu Unrecht, indem wir z. B. sagen: „Das gesprochene Wort vergeht, das geschriebene Wort besteht.“ Das gesprochene Wort ist zwar eine nicht greifbare Schrift in der Ohrmuschel, aber im Gedächtnis der Menschen ist es nicht unbedingt vergänglich. Das geschriebene Wort hat sicherlich den Vorteil, dass es die Idee in einer endgültigen Form fixiert, während die mündliche Übertragung – und das ist ihre Stärke und Schwäche – die Formen des Augenblicks annimmt und sich in jedem Moment anpasst. Der Vorteil des geschriebenen Wortes liegt in seiner Zugänglichkeit, ohne die Notwendigkeit der Anwesenheit des Lesers. Das bedeutet, dass ein einziges Buch gleichzeitig von Millionen von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt gelesen werden kann, während das Mündliche, das nicht aufgezeichnet wurde, nicht auf diese Weise verbreitet werden kann. Der Schnittpunkt zwischen beiden ist, dass das Schreiben lediglich ein Versuch ist, das gesprochene Wort unbeweglich zu machen. Jede Schrift ist eine Transkription von laut gesprochener oder interner Sprache. Das gesprochene Wort geht dem geschriebenen Wort immer voraus und kann das geschriebene Wort zum Leben erwecken. Deshalb braucht man in Gebeten und Liturgien, auch wenn das heilige Buch vorhanden ist, das Mündliche, um sich mit sich selbst, mit dem Kosmos und mit anderen zu verbinden. Deshalb müssen die Räume, die das geschriebene Wort willkommen heißen, auch Orte sein, an denen das gesprochene Wort ausgesprochen und gehört werden kann, um eine Brücke zwischen beiden zu schlagen. Hörbücher versuchen dies zu tun, ebenso wie Lesungen und Shows, aber das reicht nicht aus. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass das mündliche Geschichtenerzählen das beste Werkzeug ist, um die Kluft zwischen dem mündlichen und dem geschriebenen Wort zu überbrücken.

 

Mit der Pandemie tut sich auch in der digitalen Welt so einiges. Wie ist das Verhältnis zwischen mündlicher Weitergabe und der digitalen Welt?

Die digitale Technik nutzt das gesprochene Wort häufig für die Produktion von Podcasts oder Videos. Dies ist für das Mündliche wirklich heilsam und wohltuend. Die zahlreichen Live-Shows in den sozialen Medien haben es möglich gemacht, die Zwänge der sozialen Distanz zu umgehen und so das Publikum zu erreichen. Dies ist genau das, was KPG in Ouaga, Burkina Faso, Petit Tonton in Conakry, El Leeboon von Kër Leyti und ich im Senegal machen, ohne dabei die Erzählkurse über Zoom miteinzubeziehen. Wie ich in meiner Doktorarbeit 2009 dargelegt habe, ist das Digitale ein Werkzeug, eine Gelegenheit, das Mündliche weniger flüchtig zu machen und dem Mündlichen ein viel breiteres Publikum zu geben. Die digitale Technologie öffnet die Welt für das Mündliche, trotz ihrer technischen Einschränkungen und der Abwesenheit des Publikums, das oft zum Aufbau der mündlichen Produktion in Afrika beiträgt. Das gesprochene Wort verhilft dem digitalen Medium überhaupt erst zum Leben. Ohne lebendigen Inhalt ist es nur eine moralische Stütze.

Deshalb haben wir in unserem Werk „Art oratoire, auto régénérescence du cont“, auf Deutsch „Redekunst – Selbstwiederherstellung des Erzählens“ gezeigt, wie eine Erzählung aufgrund des Internets jetzt die Möglichkeit hat, jeweils mündlich weitergegeben zu werden. Denn diese Erzählung kann nun Raum und Zeit durchqueren und dabei die bisherige Distanz, die zwischen dem Erzähler und seinem Zuhörer durch das Gehörte, das Gesehene und das Geschriebene bestand, ganz einfach auflösen. In gleicher Weise bedeutet das Radio den Niedergang des visuellen Auditoriums, denn in der Einsamkeit des Studios hört man den Erzähler sehr wohl, kann jedoch nicht mehr gleichzeitig seine Gesten oder sein Kostüm sehen. Er gewinnt allerdings leichter an Bekanntheit und hat einen besseren Zugang zu Informanten.

 

Im Internet und in Algorithmen gibt es viele Vorurteile und das Wissen über Afrika scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein. Woher kommt diese Benachteiligung und was können wir tun, um diese Situation zu ändern und zu verbessern?

Afrika produziert noch nicht genügend Inhalte und das wenige, was es an Kontinuität bietet, wird auf Servern außerhalb des Kontinents gespeichert. Es gibt eine große Kluft, die daher rührt, dass die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann. Damit wird der Kontinent eher zum Konsumenten von Streams als zum Produzenten im Internet. Wir können diese Situation ändern, weil wir auf dem afrikanischen Kontinent ein reiches Erbe haben, das wir der Welt anbieten können, medizinisches Wissen, das wir teilen können, und eine Jugend in den Städten und Dörfern, die süchtig nach sozialen Netzwerken ist. Was fehlt, ist der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Internetverbindung zu geringen Kosten und eine massive Elektrifizierung, um Dörfer und Vororte mit elektrischer Infrastruktur zu versorgen. Ebenso brauchen junge Leute mehr Bildungszugänge und Projekte, die das gesprochene und geschriebene Wort durch digitale Technologie verbinden. Fortbildungen in öffentlichem Sprechen, Schauspielerei, Online-Training, die Einrichtung von Hörspielproduktions- und audiovisuellen Schnittstudios sind Wege, die erkundet werden müssen. Ohne zu vergessen, dass Afrika sich selbst mit den Mitteln ausstatten muss, um seine Kinderreime und Zeichentrickgeschichten online zu stellen. Wobei die ursprüngliche Vorstellungskraft respektiert werden muss, um negative oder sogar manchmal rassistische Klischees zu vermeiden.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Massamba Guèye & Stefanie Kastner
Massamba Guèye ist Wissenschaftler, Schriftsteller, Erzähler, Lyriker und Literaturkritiker aus dem Senegal. Er ist unter anderem Gründer von „Kër Leyti, dem Haus für Oralität und Kulturerbe“, einem Zentrum für die Pflege der mündlichen Überlieferung und des kulturellen Erbes. Stefanie Kastner arbeitet für das Goethe-Institut. Seit 2017 ist sie Leiterin Information mit Regionalauftrag für Subsahara Afrika in Johannesburg.
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