Ist für afrikanische Filmemacherinnen und -macher der Moment gekommen, die Produktion und den Vertrieb ihrer Filme radikaler an die Gegebenheiten ihrer Länder anzupassen, wie es sich schon ihre Pionierinnen und Pioniere erträumt hatten? Diese Frage stellt sich nicht nur mit Blick auf den freien Datenverkehr durch neue Technologien, der sich auf die künstlerische Produktion auswirkt oder auf die weltweite Gesundheitskrise, die die Filmbranche gefährdet. Auch die Problematik der Entkolonisierung der Märkte, der Bildschirme und der Produktion ist aktueller denn je. Davon zeugt der im Rahmen der Berlinale 2021 vom World Cinema Fund organisierte Tag mit dem Titel „Decolonising Cinema“.
Die Oscar-Nominierung des tunesischen Films „L’homme qui a vendu sa peau“ von Kaouther Ben Hania und die wachsende internationale Anerkennung von Filmen aus (den) Afrika(s) würden ebenfalls davon profitieren, wenn man sie mit den Emanzipationsbewegungen „durch das Kino“ in Beziehung setzen würde, die mit den staatlichen Unabhängigkeiten, etwa Tunesiens, begannen.
Die Anfänge des Kinos in Tunesien
Das Kino wurde in Tunesien in einem kolonialen Kontext geboren. Seit 1895, zur Zeit des französischen Protektorats, haben die Arbeiter der Lumière-Brüder in Tunis verschiedene Aufnahmen gedreht, zur gleichen Zeit fanden dort, organisiert von dem Tunesier Albert Samama-Chikli und dem französischen Fotografen Soler, die ersten Filmvorführungen statt. Im Jahr 1908 eröffnete der erste tunesische Kinosaal, das Omnia-Pathé. In den 1920er Jahren drehte Samama-Chikli zwei eigene Filme, doch es sollte bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1956 dauern, bis sich ein echtes nationales Kino herausbildete.
Die Geburt der Filmklub-Bewegung
Seit Anfang der 1940er Jahre entwickelte sich in Tunesien dank der Wanderkinos, die die tunesischen Städte bespielten, eine wachsende Gemeinschaft von Kinoliebhabern. Der erste Kinoklub wurde gegründet, Anfang der 1950er Jahre folgte durch den aus Sfax stammenden Arabischlehrer Tahar Cheriaa der erste Kinoklub für Jugendliche. Bald darauf wurden die Vorstellungen der Filme sowie die Diskussionen nur noch auf Arabisch abgehalten, denn die neue Initiative hatte sich einer nationalen Perspektive verschrieben: Der Zugang zu den Kinoklubs sollte demokratisiert werden. Bislang wurden diese hauptsächlich von Franzosen und von höher gebildeten Tunesiern besucht, wie Schulleitern oder Lehrkräften an weiterführenden Schulen. Die Gründung der Zeitschrift für Filmkritiken „Nawadi-Cinéma“ (1959-1970) durch Cheriaa trug weiter dazu bei, dass nun eine neue Generation kinobegeisterter Tunesierinnen und Tunesier heranwuchs.
Es ist bemerkenswert, dass Tunesien zur Zeit der Unabhängigkeit mit 95 Kinosälen ausgestattet war und es zu Beginn der 1960er Jahre rund 50 Kinoklubs im ganzen Land gab. Im Jahr 1962 wurde das Land dank Cheriaas neuer Rolle als Leiter für Kino im Staatssekretariat für kulturelle Angelegenheiten und mit Unterstützung des Kulturministers mit gut 20 Kraftwägen ausgestattet, die über einen 16-mm-Projektor verfügten und von ausgebildeten Filmvorführern gefahren wurden. In Zusammenarbeit mit den Lehrkräften der Grundschulen und der weiterführenden Schulen organisierten die Fahrer der Wägen Vorführungen in den Regionen. Im Programm: die „Actualités Tunisiennes“, produziert von der Anonymen tunesischen Gemeinschaft für Filmproduktion und -verbreitung, einem 1957 geschaffenen Staatsorgan, zudem ein Lehrfilm, beispielsweise ein didaktischer Film über Hygiene, von Menschen oder auch Brunnen und Tieren, und ein Langspielfilm, wie „Station Centrale“ von Youssef Chahine.
Die Filmtage von Karthago
Im Jahr 1966 entstanden in dieser Atmosphäre des kulturellen Aufbruchs die Filmtage von Karthago in Tunis, die den Kinolandschaften des afrikanischen Kontinents und der Arabischen Welt gewidmet sind. Sie waren der Traum des tunesischen Visionärs Tahar Cheriaa, der unter dem Mitwirken des senegalesischen Filmemachers und Schriftstellers Ousmane Sembène sowie mit der Unterstützung des Kulturministeriums Realität wurde. Die erste Ausgabe fand übrigens fast ohne afrikanische und arabische Filme statt – abgesehen von dem bemerkenswerten „La noire de“ von Ousmane Sembène, dem Gewinner des ersten „Tanit d’Or“, dem Hauptpreis des Festivals. Dies ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass sich die afrikanischen Kinolandschaften erst nach der Unabhängigkeit ab Ende der 1950er Jahre entwickeln konnten – mit Ausnahme von Ägypten, wo sich schon ab Beginn des 20. Jahrhunderts eine Filmindustrie entwickelte.
Von Anfang an verstanden sich die Filmtage als kämpferische Bewegung, deren Hauptziel es war, Filmemacher aus dem „Süden“ zusammenzubringen, um gemeinsam ein Produktionssystem zu entwerfen, das in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Realitäten ihrer Länder verankert ist. Sie wollten eine nachhaltige Süd-Süd-Zusammenarbeit herausbilden und gleichzeitig offen für den Rest der Welt bleiben. Die Filmtage engagierten sich daher für die Wertschätzung afrikanischer und arabischer Filme, die in ihrer sozialen Realität verankert sind. Gleichzeitig öffneten sie sich für Filmkunst aus südlichen Ländern, besonders Lateinamerika und Asien. Auf diese Weise haben sie Filmemacher wie die Ägypter Taoufik Saleh und Youssef Chahine, den Palästinenser Michel Khleifi, den Mauretaner Mohamed Hondo, den Malier Souleymane Cissé, den Senegalesen Safi Faye, den Kameruner Jean-Pierre Dikongué-Pipa oder Sarah Maldoror entdeckt.