Die Kunst des Geschichtenerzählens

Oralität in Afrika

Das Mündliche und das Schriftliche sind zwei unterschiedliche Systeme der Informations- und Wissensspeicherung. Wo sich beide treffen, entstehen gelegentlich Probleme. Was kann man tun, um Missverständnisse zu vermeiden und die Kluft zwischen beiden zu überbrücken?

Oft stellen wir das Schriftliche und das Mündliche als unterschiedliche Systeme der Information und Wissenserhaltung einander gegenüber, zu Recht oder zu Unrecht, indem wir z. B. sagen: „Das gesprochene Wort vergeht, das geschriebene Wort besteht.“ Das gesprochene Wort ist zwar eine nicht greifbare Schrift in der Ohrmuschel, aber im Gedächtnis der Menschen ist es nicht unbedingt vergänglich. Das geschriebene Wort hat sicherlich den Vorteil, dass es die Idee in einer endgültigen Form fixiert, während die mündliche Übertragung – und das ist ihre Stärke und Schwäche – die Formen des Augenblicks annimmt und sich in jedem Moment anpasst. Der Vorteil des geschriebenen Wortes liegt in seiner Zugänglichkeit, ohne die Notwendigkeit der Anwesenheit des Lesers. Das bedeutet, dass ein einziges Buch gleichzeitig von Millionen von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt gelesen werden kann, während das Mündliche, das nicht aufgezeichnet wurde, nicht auf diese Weise verbreitet werden kann. Der Schnittpunkt zwischen beiden ist, dass das Schreiben lediglich ein Versuch ist, das gesprochene Wort unbeweglich zu machen. Jede Schrift ist eine Transkription von laut gesprochener oder interner Sprache. Das gesprochene Wort geht dem geschriebenen Wort immer voraus und kann das geschriebene Wort zum Leben erwecken. Deshalb braucht man in Gebeten und Liturgien, auch wenn das heilige Buch vorhanden ist, das Mündliche, um sich mit sich selbst, mit dem Kosmos und mit anderen zu verbinden. Deshalb müssen die Räume, die das geschriebene Wort willkommen heißen, auch Orte sein, an denen das gesprochene Wort ausgesprochen und gehört werden kann, um eine Brücke zwischen beiden zu schlagen. Hörbücher versuchen dies zu tun, ebenso wie Lesungen und Shows, aber das reicht nicht aus. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass das mündliche Geschichtenerzählen das beste Werkzeug ist, um die Kluft zwischen dem mündlichen und dem geschriebenen Wort zu überbrücken.

 

Mit der Pandemie tut sich auch in der digitalen Welt so einiges. Wie ist das Verhältnis zwischen mündlicher Weitergabe und der digitalen Welt?

Die digitale Technik nutzt das gesprochene Wort häufig für die Produktion von Podcasts oder Videos. Dies ist für das Mündliche wirklich heilsam und wohltuend. Die zahlreichen Live-Shows in den sozialen Medien haben es möglich gemacht, die Zwänge der sozialen Distanz zu umgehen und so das Publikum zu erreichen. Dies ist genau das, was KPG in Ouaga, Burkina Faso, Petit Tonton in Conakry, El Leeboon von Kër Leyti und ich im Senegal machen, ohne dabei die Erzählkurse über Zoom miteinzubeziehen. Wie ich in meiner Doktorarbeit 2009 dargelegt habe, ist das Digitale ein Werkzeug, eine Gelegenheit, das Mündliche weniger flüchtig zu machen und dem Mündlichen ein viel breiteres Publikum zu geben. Die digitale Technologie öffnet die Welt für das Mündliche, trotz ihrer technischen Einschränkungen und der Abwesenheit des Publikums, das oft zum Aufbau der mündlichen Produktion in Afrika beiträgt. Das gesprochene Wort verhilft dem digitalen Medium überhaupt erst zum Leben. Ohne lebendigen Inhalt ist es nur eine moralische Stütze.

Deshalb haben wir in unserem Werk „Art oratoire, auto régénérescence du cont“, auf Deutsch „Redekunst – Selbstwiederherstellung des Erzählens“ gezeigt, wie eine Erzählung aufgrund des Internets jetzt die Möglichkeit hat, jeweils mündlich weitergegeben zu werden. Denn diese Erzählung kann nun Raum und Zeit durchqueren und dabei die bisherige Distanz, die zwischen dem Erzähler und seinem Zuhörer durch das Gehörte, das Gesehene und das Geschriebene bestand, ganz einfach auflösen. In gleicher Weise bedeutet das Radio den Niedergang des visuellen Auditoriums, denn in der Einsamkeit des Studios hört man den Erzähler sehr wohl, kann jedoch nicht mehr gleichzeitig seine Gesten oder sein Kostüm sehen. Er gewinnt allerdings leichter an Bekanntheit und hat einen besseren Zugang zu Informanten.

 

Im Internet und in Algorithmen gibt es viele Vorurteile und das Wissen über Afrika scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein. Woher kommt diese Benachteiligung und was können wir tun, um diese Situation zu ändern und zu verbessern?

Afrika produziert noch nicht genügend Inhalte und das wenige, was es an Kontinuität bietet, wird auf Servern außerhalb des Kontinents gespeichert. Es gibt eine große Kluft, die daher rührt, dass die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann. Damit wird der Kontinent eher zum Konsumenten von Streams als zum Produzenten im Internet. Wir können diese Situation ändern, weil wir auf dem afrikanischen Kontinent ein reiches Erbe haben, das wir der Welt anbieten können, medizinisches Wissen, das wir teilen können, und eine Jugend in den Städten und Dörfern, die süchtig nach sozialen Netzwerken ist. Was fehlt, ist der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Internetverbindung zu geringen Kosten und eine massive Elektrifizierung, um Dörfer und Vororte mit elektrischer Infrastruktur zu versorgen. Ebenso brauchen junge Leute mehr Bildungszugänge und Projekte, die das gesprochene und geschriebene Wort durch digitale Technologie verbinden. Fortbildungen in öffentlichem Sprechen, Schauspielerei, Online-Training, die Einrichtung von Hörspielproduktions- und audiovisuellen Schnittstudios sind Wege, die erkundet werden müssen. Ohne zu vergessen, dass Afrika sich selbst mit den Mitteln ausstatten muss, um seine Kinderreime und Zeichentrickgeschichten online zu stellen. Wobei die ursprüngliche Vorstellungskraft respektiert werden muss, um negative oder sogar manchmal rassistische Klischees zu vermeiden.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Massamba Guèye & Stefanie Kastner
Massamba Guèye ist Wissenschaftler, Schriftsteller, Erzähler, Lyriker und Literaturkritiker aus dem Senegal. Er ist unter anderem Gründer von „Kër Leyti, dem Haus für Oralität und Kulturerbe“, einem Zentrum für die Pflege der mündlichen Überlieferung und des kulturellen Erbes. Stefanie Kastner arbeitet für das Goethe-Institut. Seit 2017 ist sie Leiterin Information mit Regionalauftrag für Subsahara Afrika in Johannesburg.
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