Kriminalisierung der Intellektuellen

Die Situation der akademischen Freiheit

Die gewählten oder ernannten Rektoren wurden über Nacht freigestellt. Die Universitätsleitungen wurden unter Druck gesetzt, linke und oppositionelle Professoren oder Unterzeichner der Friedenspetition zu entlassen. Ein Teil der Universitäten hat die „Friedensakademiker“ sofort entlassen, andere weigern sich halbherzig. Aber das Ende des Tunnels ist dunkel. Universitätsleitungen werden direkt oder indirekt bedroht. Universitäten, deren Rektoren sich widersetzen, werden mit Beschränkungen für neue Studierende und dem Einfrieren von Magister- und Doktorandenprogrammen unter Druck gesetzt. Als ob das nicht schon genug wäre, kommt auch noch die Polizei auf den Campus. Akademiker dürfen nicht ins Ausland reisen. Pässe werden konfisziert. Wissenschaftler, die versuchen, an Konferenzen im Ausland teilzunehmen, werden bei der Grenzkontrolle in Gewahrsam genommen oder verhaftet, im besten Fall müssen sie nur umkehren. Einige Wohnungen von Professoren wurden von der Anti-Terror-Polizei gestürmt, ihre Computer konfisziert und sie wegen Terrorismusverdacht verhört. Vier Petitionsunterzeichner waren über einen Monat in Gewahrsam. Andere Akademiker wurden verhaftet und über Tage verhört. Gegen mehr als 1.000 Akademiker, die unterschrieben haben, dass der Staat im Südosten keine Zivilisten töten soll und es Frieden geben sollte, wurde ein Gerichtsverfahren wegen terroristischem Vergehen eingeleitet. Die große Mehrheit der Unterzeichner wurde durch Dekrete entlassen. Das bedeutet, arbeitslos zu sein, ohne Einkommen, ohne Rentenansprüche, ohne Reisepass und ohne die Möglichkeit entweder bei einem staatlichen oder privaten Arbeitgeber angestellt zu werden. Darüber hinaus wurden auch Eheleute und Kinder mit entlassen. Dieser katastrophale Zustand straft tausende Familien mit dem zivilen Tod.

 

Während all dies geschah, setzte ich meine akademische Arbeit im Fachbereich Journalismus an der Universität fort, an der ich 18 Jahre arbeitete. Im Januar 2017 habe ich gekündigt, da ich es nicht mehr ausgehalten habe. Mein Glaube daran, unter diesen Ausnahmebedingungen freie Wissenschaft zu betreiben, wurde erschüttert. Ich habe mich geschämt, dass Akademiker, die aufgrund der Inkompetenz der Universitätsleitung noch nicht ihre Stelle verloren hatten, so tun, als sei nichts geschehen. Ich habe das Schweigen derer, die noch arbeiteten, nachdem jeden Tag Kollegen ungerechterweise entlassen wurden, nicht mehr ausgehalten. Außerdem sind die Universitäten zu Orten geworden, an denen studierende AKP’ler oppositionelle Professoren ausspionieren und sie bei der Polizei oder islamo-faschistischen Zeitungen denunzieren. Wir konnten nicht mehr kritisch sein, sondern hatten Angst. Es gab weitere Kollegen, die, wie ich, es nicht mehr ausgehalten und gekündigt haben.

 

Die Professoren, die aus den Hochschulen entfernt wurden, kommen mehrheitlich aus der linken, oppositionellen und kritischen Tradition. Unter ihnen sind auch junge Akademiker und Assistenten, die ihre Doktorarbeit noch nicht beendet haben. Alle gehören zu den intellektuellen und gebildeten Menschen dieses Landes. Aber in der AKP-Türkei ist der Anti-Intellektualismus und die Feindschaft gegen Gebildete auf so erschreckendem Niveau, dass herbeigesehnt wird, die denkenden, kritischen Hirne auszuschalten. Die entlassenen Akademiker aber setzen ihren Widerstand fort. Sie haben sogar eine Straßen-Akademie gegründet und begonnen, für alle zugängliche Seminare zu geben. Unter dem Slogan „Die Akademie fügt sich nicht“ opponieren sie überall im Land und kämpfen gegen die Ungerechtigkeiten der Regierung. Die Akademiker, die sich nicht gegen die Gängelung auflehnen, schweigen gegenüber den Ungerechtigkeiten, streichen ihr Gehalt ein und geben weiterhin ihre Klassen. Das schmerzt am meisten. Über 100 Journalisten sind in Haft. Die Fakultäten der Kommunikationswissenschaften schweigen. Tausende Richter und Staatsanwälte sind im Gefängnis, das Rechtssystem ist auf den Kopf gestellt, aber die Jura-Fakultäten schweigen. Mit den Politikwissenschaften befasse ich mich gar nicht. Die wertvollsten Philosophen werden über Nacht aus ihren Instituten geworfen, die Hochschule schweigt weiter. Kurz gesagt dominiert in der Wissenschaft der Gedanke, dass die Schlange, die mich nicht beißt, leben soll. Müssten aber die gebildetsten, intellektuellsten Menschen des Landes nicht etwas mutiger sein, mehr Reaktion zeigen? In diesem Sinne haben die in der Universität Verbliebenen das Leistungsziel verpasst. Es gibt einen Teil, der nur darauf wartet, die leer gewordenen Stellen der entlassenen, geschätzten Professoren zu übernehmen. Oder Rektoren, die sich hinter die Ansicht der AKP „für das Land zu sterben“ stellen und einen „Campus der 15. Juli Märtyrer“ eröffnen, einen „15. Juli Vorlesungssaal“ bauen oder die Straße zur Universität in „15. Juli Demokratie-Boulevard“ umbenennen …

 

Das Regime des Ausnahmezustands, mit dem wir nach dem Putschversuch vom 15. Juli konfrontiert sind, kann man als „Totalitarismus zum Schutz der Demokratie“ beschreiben. Das ist ein echtes Oxymoron. Fast jede Woche werden Menschen durch neue Dekrete arbeitslos, mittellos und verlieren ihren Pass. Die akademische Freiheit nahm bereits mit dem YÖK-Gesetz nach 1980 einen schweren Schaden. Die Arbeit, die faschistische Soldaten in den 1980er Jahren an den Universitäten halbfertig hinterließen, wird heute von einer zivilen Regierung zu Ende gebracht. Was die Putschisten nicht machen konnten, machen 2017 Zivilisten, die behaupten, Opfer eines Putsches zu sein. Mit dem Vorwand des Ausnahmezustands wurde richtig in die Universitäten der Türkei geschissen. Genauso wie es das Titelbild von Nokta vor 31 Jahren beschrieben hatte.

Esra Arsan
Esra Arsan ist Journalistin und Kolumnistin unter anderem für Evrensel. Bis Anfang 2017 war sie Professorin an der Istanbul Bilgi Universität im Fachbereich Journalismus
Vorheriger Artikel„Kein Ort, dem die Mächtigen ihren Stempel aufdrücken können“
Nächster ArtikelMut und Widerstand