Kriminalisierung der Intellektuellen

Die Situation der akademischen Freiheit

In der Türkei hat die Armee, die am 12. September 1980 geputscht hatte, ein Jahr später ein Hochschulgesetz verabschiedet, mit dem die institutionelle und wissenschaftliche Autonomie aller Universitäten des Landes abgeschafft wurde. Der mit diesem Gesetz gegründete Hohe Hochschulrat (YÖK) wurde zur einzigen Institution, die alle Universitäten danach untersuchte, ob sie gemäß den Grundsätzen des türkischen Nationalismus und der nationalen, religiösen und kulturellen Sensibilitäten arbeiteten. Fragen Sie nicht, was es bedeutet, nach diesen Sensibilitäten Wissenschaft zu betreiben. In den 1980er Jahren nahmen die putschenden Soldaten die Universitäten in Verantwortung für die Terrorwelle, die dem Putsch das Fundament bereitet hatte. Diesem Verständnis lag der Gedanke zugrunde, dass sich an den Universitäten linke Professoren eingenistet und ihre Studierenden mit kommunistischen Gedanken vergiftet hatten. Mit der Wirklichkeit hatte das nichts zu tun. Linke und demokratische Professoren versuchten ihren Studierenden lediglich das Prinzip des kritischen Denkens zu erklären. Aber das ist nicht nur in der Türkei, sondern in allen autoritären Regimen eine unbeliebte Praxis.

 

Dieser Putsch hatte auch die Freigeister an den Institutionen entfernt. Mit der Begründung, sie wären gegen das YÖK-Gesetz, wurden in einem ersten Schritt 148 Professoren auf Lebenszeit von ihrer Arbeit entfernt. Ende 1983 wurden über 5.000 Beamte aus öffentlichen Institutionen entlassen. Die entlassenen Akademiker gehörten zu den erfolgreichsten des Landes, international bekannt, mit den meisten wissenschaftlichen Publikationen. Sie können sich denken, wie dadurch die akademische Qualität gesunken ist. Diese hatte für die Putschisten aber sowieso keinen Wert.

 

In den Anfangsjahren von YÖK war ich Studentin und hatte die Zeitschrift Nokta abonniert. 1986 hatte Nokta ein Interview über dieses YÖK-Gesetz auf dem Titel. Auf dem Umschlag war in einer Kollage der YÖK-Gründer und erste Präsident, Ihsan Doğramacı, abgebildet, der über dem historischen Campus der Universität Istanbul seine Hosen runterließ und in die Universität machte. Besser konnte man den Schaden, den die faschistischen Generäle den Universitäten angetan hatten, nicht darstellen. Es ist interessant, dass es nach dem 1980er Putsch noch eine so kritische Publikation gab, die die Armee in harscher Form angriff.

 

Wer hätte gedacht, dass heute, fast 40 Jahre später, nicht durch einen Militärputsch, sondern durch eine demokratisch gewählte Regierung, den Universitäten noch schwererer Schaden zugefügt wird. Die seit 2002 allein regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat die größte Entlassungswelle in der Geschichte des Landes zu verantworten. Begründet durch eine Politik der Angst, wurden seit dem 15. Juli 2016 über 50.000 im Bildungssektor Tätige aus ihren Berufen entfernt. Davon waren 9.000 an verschiedenen Universitäten Lehrende und Forschende. All dieses Übel wurde nicht durch einen faschistischen Putsch angerichtet, sondern geschah in der Zeit einer zivilen, legitimierten Regierung. Wie ist es dazu gekommen?

 

Am 15. Juli 2016 gab es einen erfolglosen Militär-Putschversuch. Eine Gruppe innerhalb der Armee wollte die Macht an sich reißen. Zivile Kräfte haben diesen Putschversuch vereitelt. Auf den Straßen standen Soldaten und Polizisten Zivilisten gegenüber. In bewaffneten Auseinandersetzungen gab es Tote und Verletzte. Die AKP-Regierung hat, sofort nachdem der Putsch vereitelt war und die Straßen beruhigt waren, den Ausnahmezustand verhängt, das Parlament außer Kraft gesetzt und begonnen, das Land durch „Dekrete mit Gesetzeskraft“ zu regieren. Diese Dekrete geben der Regierung die Handlungsvollmacht mit der Begründung, illegale Taten und Putschisten zu bestrafen. Der Putschversuch ermöglichte der Regierung unkontrollierte Freiheiten. Die AKP nimmt diesen zum Vorwand für eine große Hexenjagd. Die dabei ihre Arbeit und Lohn verloren haben, sollen zu einem großen Teil hinter dem Putschversuch stehen und Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft der Gülenisten sein.

 

Die AKP Regierung behauptet, mit den Dekreten öffentliche Institutionen von den „putschenden“ Gülenisten zu säubern. Tatsächlich werden durch den Entlassungskorb linke, oppositionelle, gewerkschaftlich aktive Professoren und „Friedensakademiker“, die gegen die Besatzungspolitik der Regierung im Südosten Unterschriften sammelten, hinausgeworfen. Laut dem im Mai 2017 veröffentlichten Amnesty International- Bericht zu den Entlassungen, wurden nach dem Putschversuch über 100.000 Beamte, davon 5.000 Akademiker und Angestellte an Hochschulen, entlassen. Darüber hinaus muss hinzugefügt werden, dass Universitäten und zahlreiche weitere Institutionen, die Arbeitsplätze bereitstellten, durch Dekrete geschlossen wurden und deshalb noch deutlich mehr Menschen ihre Arbeit verloren haben.

 

Die Regierung nennt die entlassenen Akademiker, die nie wieder in einer Bildungseinrichtung arbeiten können, Vaterlandsverräter. Wenn man fragt, welche Art von Verrat sie begangen hätten, wird gesagt, sie hätten nicht die Sicht des Staates in der Kurdenfrage geteilt oder die neoliberale Regierungspolitik kritisiert. In einem normalen Land sind das Dinge, die ein normaler Akademiker macht. Aber Universitätsvorstände, die sich nicht gegen diese Angstpolitik des AKP-Vorsitzenden Erdoğans stellen, beugen sich diesem Unsinn. Nach dem Putschversuch hat YÖK, auf unrechtmäßige Weise, den Rücktritt aller Universitätsdekane gefordert. Insgesamt sind 1.577 Dekane, davon 1.176 an staatlichen Universitäten und 401 an Privatuniversitäten, ohne sich zu beschweren, zurückgetreten.

Die gewählten oder ernannten Rektoren wurden über Nacht freigestellt. Die Universitätsleitungen wurden unter Druck gesetzt, linke und oppositionelle Professoren oder Unterzeichner der Friedenspetition zu entlassen. Ein Teil der Universitäten hat die „Friedensakademiker“ sofort entlassen, andere weigern sich halbherzig. Aber das Ende des Tunnels ist dunkel. Universitätsleitungen werden direkt oder indirekt bedroht. Universitäten, deren Rektoren sich widersetzen, werden mit Beschränkungen für neue Studierende und dem Einfrieren von Magister- und Doktorandenprogrammen unter Druck gesetzt. Als ob das nicht schon genug wäre, kommt auch noch die Polizei auf den Campus. Akademiker dürfen nicht ins Ausland reisen. Pässe werden konfisziert. Wissenschaftler, die versuchen, an Konferenzen im Ausland teilzunehmen, werden bei der Grenzkontrolle in Gewahrsam genommen oder verhaftet, im besten Fall müssen sie nur umkehren. Einige Wohnungen von Professoren wurden von der Anti-Terror-Polizei gestürmt, ihre Computer konfisziert und sie wegen Terrorismusverdacht verhört. Vier Petitionsunterzeichner waren über einen Monat in Gewahrsam. Andere Akademiker wurden verhaftet und über Tage verhört. Gegen mehr als 1.000 Akademiker, die unterschrieben haben, dass der Staat im Südosten keine Zivilisten töten soll und es Frieden geben sollte, wurde ein Gerichtsverfahren wegen terroristischem Vergehen eingeleitet. Die große Mehrheit der Unterzeichner wurde durch Dekrete entlassen. Das bedeutet, arbeitslos zu sein, ohne Einkommen, ohne Rentenansprüche, ohne Reisepass und ohne die Möglichkeit entweder bei einem staatlichen oder privaten Arbeitgeber angestellt zu werden. Darüber hinaus wurden auch Eheleute und Kinder mit entlassen. Dieser katastrophale Zustand straft tausende Familien mit dem zivilen Tod.

 

Während all dies geschah, setzte ich meine akademische Arbeit im Fachbereich Journalismus an der Universität fort, an der ich 18 Jahre arbeitete. Im Januar 2017 habe ich gekündigt, da ich es nicht mehr ausgehalten habe. Mein Glaube daran, unter diesen Ausnahmebedingungen freie Wissenschaft zu betreiben, wurde erschüttert. Ich habe mich geschämt, dass Akademiker, die aufgrund der Inkompetenz der Universitätsleitung noch nicht ihre Stelle verloren hatten, so tun, als sei nichts geschehen. Ich habe das Schweigen derer, die noch arbeiteten, nachdem jeden Tag Kollegen ungerechterweise entlassen wurden, nicht mehr ausgehalten. Außerdem sind die Universitäten zu Orten geworden, an denen studierende AKP’ler oppositionelle Professoren ausspionieren und sie bei der Polizei oder islamo-faschistischen Zeitungen denunzieren. Wir konnten nicht mehr kritisch sein, sondern hatten Angst. Es gab weitere Kollegen, die, wie ich, es nicht mehr ausgehalten und gekündigt haben.

 

Die Professoren, die aus den Hochschulen entfernt wurden, kommen mehrheitlich aus der linken, oppositionellen und kritischen Tradition. Unter ihnen sind auch junge Akademiker und Assistenten, die ihre Doktorarbeit noch nicht beendet haben. Alle gehören zu den intellektuellen und gebildeten Menschen dieses Landes. Aber in der AKP-Türkei ist der Anti-Intellektualismus und die Feindschaft gegen Gebildete auf so erschreckendem Niveau, dass herbeigesehnt wird, die denkenden, kritischen Hirne auszuschalten. Die entlassenen Akademiker aber setzen ihren Widerstand fort. Sie haben sogar eine Straßen-Akademie gegründet und begonnen, für alle zugängliche Seminare zu geben. Unter dem Slogan „Die Akademie fügt sich nicht“ opponieren sie überall im Land und kämpfen gegen die Ungerechtigkeiten der Regierung. Die Akademiker, die sich nicht gegen die Gängelung auflehnen, schweigen gegenüber den Ungerechtigkeiten, streichen ihr Gehalt ein und geben weiterhin ihre Klassen. Das schmerzt am meisten. Über 100 Journalisten sind in Haft. Die Fakultäten der Kommunikationswissenschaften schweigen. Tausende Richter und Staatsanwälte sind im Gefängnis, das Rechtssystem ist auf den Kopf gestellt, aber die Jura-Fakultäten schweigen. Mit den Politikwissenschaften befasse ich mich gar nicht. Die wertvollsten Philosophen werden über Nacht aus ihren Instituten geworfen, die Hochschule schweigt weiter. Kurz gesagt dominiert in der Wissenschaft der Gedanke, dass die Schlange, die mich nicht beißt, leben soll. Müssten aber die gebildetsten, intellektuellsten Menschen des Landes nicht etwas mutiger sein, mehr Reaktion zeigen? In diesem Sinne haben die in der Universität Verbliebenen das Leistungsziel verpasst. Es gibt einen Teil, der nur darauf wartet, die leer gewordenen Stellen der entlassenen, geschätzten Professoren zu übernehmen. Oder Rektoren, die sich hinter die Ansicht der AKP „für das Land zu sterben“ stellen und einen „Campus der 15. Juli Märtyrer“ eröffnen, einen „15. Juli Vorlesungssaal“ bauen oder die Straße zur Universität in „15. Juli Demokratie-Boulevard“ umbenennen …

 

Das Regime des Ausnahmezustands, mit dem wir nach dem Putschversuch vom 15. Juli konfrontiert sind, kann man als „Totalitarismus zum Schutz der Demokratie“ beschreiben. Das ist ein echtes Oxymoron. Fast jede Woche werden Menschen durch neue Dekrete arbeitslos, mittellos und verlieren ihren Pass. Die akademische Freiheit nahm bereits mit dem YÖK-Gesetz nach 1980 einen schweren Schaden. Die Arbeit, die faschistische Soldaten in den 1980er Jahren an den Universitäten halbfertig hinterließen, wird heute von einer zivilen Regierung zu Ende gebracht. Was die Putschisten nicht machen konnten, machen 2017 Zivilisten, die behaupten, Opfer eines Putsches zu sein. Mit dem Vorwand des Ausnahmezustands wurde richtig in die Universitäten der Türkei geschissen. Genauso wie es das Titelbild von Nokta vor 31 Jahren beschrieben hatte.

Esra Arsan
Esra Arsan ist Journalistin und Kolumnistin unter anderem für Evrensel. Bis Anfang 2017 war sie Professorin an der Istanbul Bilgi Universität im Fachbereich Journalismus
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