„Kein Ort, dem die Mächtigen ihren Stempel aufdrücken können“

Gentrifizierung, Umbruch und Proteste im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu

Das Tisch- und Stühleverbot nennt Adanali einen Versuch der AKP-Stadtverwaltung, Bürger vom öffentlichen Raum abzuschneiden und Beyoğlu „zu disziplinieren“. Nicht nur die schier zügellose Gier der Investoren sei schuld am raschen „Absturz“ seines Viertels, sondern die Regierung habe aktiv daran gearbeitet, Beyoğlu nach ihren Vorstellungen umzuformen. So sieht das auch Incilay Erdoğan, die als Mitglied der regierungskritischen Istanbuler Ärztekammer während der Gezi-Proteste Demonstranten medizinisch versorgte und dafür, zusammen mit zahlreichen Kollegen, mit Disziplinarverfahren abgestraft wurde.

 

„Beyoğlu ist ein Ort, der für alle da ist. Das ist in Istanbul einzigartig“, sagt Incilay Erdoğan. „Nirgends sonst können Roma-Frauen, linke Intellektuelle, arme kurdische Kinder, Lesben und Schwule, Flüchtlinge, aber auch konservative Familien nebeneinander leben und Platz finden.“

 

Für die junge Ärztin ist der von der Regierung vorangetriebene sozialdemografische Wandel ein Krieg mit anderen Mitteln. „Hier haben sie keine Bomben und Geschosse benutzt wie in den kurdischen Städten Şırnak, Cizre oder Diyarbakir. Die Methode war langsamer, heimlicher. Aber das Ergebnis bleibt gleich: Wer nicht ins Bild passt, wer unerwünscht ist, wer sich nicht anpassen will, muss gehen. Die Stadt wird zu einer öden Wüste.“

 

Auch die Wut darüber, dass das bunte, aufsässige und vor allem auch für alle zugängliche Beyoğlu gegen ihren Willen immer eintöniger und unerschwinglicher wurde, trieb die Menschen 2013 auf die Straße. Regierungskritiker und Anti-Gentrifizierungsaktivisten unterstellen Erdoğan Revanchismus. Der Geist des Gezi-Aufstandes treibe den Präsidenten noch immer um. Wie sonst sei es zu erklären, dass der Staatschef zwei in Ankara wegen ihrer Entlassung hungerstreikende Akademiker „wegen der Gefahr eines Gezi-artigen Aufstands“ einsperren und den öffentlichen Platz ihres friedlichen Protests geradezu militaristisch abriegeln ließ?

 

Erdoğans Rede zur Wiedereröffnung des Rathauses von Beyoğlu vor fast zwei Jahren ließ keine Zweifel an seinen Absichten. „Beyoğlu hat 1918 Besatzer erlebt. Es hat jene erlebt, die sich nach der alten Türkei sehnen“, sagte Erdoğan. Die „alte Türkei“: das ist für ihn die Zeit der Kemalisten und Aufsässigen, aber auch eine Zeitrechnung vor und nach dem Ausschalten aller politischen Gegner. „Beyoğlu hat auch die Gezi-Demonstranten erlebt. Und Beyoğlu wird hoffentlich auch der Ort sein, wo wir anfangen werden, die neue Türkei aufzubauen.“ Die Bauarbeiten dafür sind – wortwörtlich – in vollem Gang. Das während der Gezi-Proteste gegebene Versprechen des Istanbuler Bürgermeisters Kadir Topbaş, man werde die Bevölkerung noch wegen jedem „Verrücken einer Bushaltestelle“ um ihre Meinung fragen, ist längst vergessen. Zwar steht der Gezi-Park. Noch. Denn im Februar wurde der Grundstein für ein weiteres Drohprojekt Erdoğans gelegt: eine große Moschee auf dem Taksim-Platz und damit ein Bauvorhaben, das jahrzehntelang wegen zu großem Widerstand vonseiten der Opposition und der Bauämter wiederholt auf die lange Bank geschoben worden war. Architekt ist Şefik Birkiye, der sich bereits mit dem Entwurf von Erdoğans überdimensionalen – und von einem Verwaltungsgericht als illegal erklärten – Präsidentenpalast einen Namen gemacht hat.

 

Die Anthropologin Ayşe Çavdar, die seit Jahren über die Stadtpolitik der islamisch-konservativen AKP forscht, hält die Diskussion um die „Rachelust“ Erdoğans für überholt. „Die Zeit für Rache ist vorbei“, sagt sie. „Was bleibt ist der Neid auf das, was die anderen darstellen. Erdoğan fragt sich, warum seine Partei es nicht schafft, die Bewunderung der Kurden oder der Säkularen zu erringen. Deswegen zerstören sie jetzt alles, was ihren Gegnern etwas bedeutet.“ Die konservative Elite, die jetzt an der Macht sei, gehe nicht nur mit Beyoğlu und Istanbul, sondern mit dem gesamten Land um, als sei es unbewohnt und beliebig formbar. Pessimistisch ist sie deswegen nicht. „Beyoğlu ist kein Ort, dem die Mächtigen einfach ihren Stempel aufdrücken können.“

Constanze Letsch
Constanze Letsch ist Journalistin und Doktorandin.
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