„Kein Ort, dem die Mächtigen ihren Stempel aufdrücken können“

Gentrifizierung, Umbruch und Proteste im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu

Am 16. April, kurz vor Mitternacht, sitzt der linke Journalist Ümit Bektaş in der Dachkneipe der Istanbuler Bauingenieurskammer. Auf dem Bildschirm eines Fernsehers wird noch ausgezählt – doch das Ergebnis des umstrittenen Referendums ist bereits klar: Das von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gewünschte Präsidialsystem hat einen knappen – und von vielen angezweifelten – Sieg errungen. Bektaş Smartphone schnurrt aufgeregt über den Tisch. Nachrichten von ersten Demonstrationen treffen ein – im nahegelegenen Beşiktaş, im benachbarten Şişli und im asiatischen Stadtteil Kadiköy seien Leute bereits auf der Straße, um wegen möglichen Wahlbetrugs gegen das Ergebnis des Referendums zu protestieren. Gebannt verfolgen auch die restlichen Gäste Videos von sich regendem Widerstand auf kleinen Bildschirmen in ihren Händen. Doch auf den Straßen um die im Istanbuler Stadtbezirk Beyoğlu gelegene Ingenieurskammer bleibt es still. In Taksim und auf der für jede Art politischer Kundgebungen wichtigsten Fußgängermeile der Stadt, Istiklâl Caddesi, kommt es diesmal zu keinerlei Protest.

 

Noch vor nicht allzu langer Zeit war das anders. Im Sommer 2013 wurden der Taksim-Platz und der dortige Gezi-Park zum Schauplatz der wohl größten Protestbewegung der neueren Geschichte der Türkei. Hunderttausende gingen damals auf die Straße, um gegen den Bau eines Einkaufszentrums und den dafür vorgesehenen Abriss des Parks zu demonstrieren. „Taksim ist überall“ wurde zum Slogan der gegen die Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP aufbegehrenden Demonstranten. „Niemand kommt mehr nach Taksim“, sagt Bektaş und nickt. „Das ist vorbei. Viele meiner Freunde kommen schon seit Monaten nicht mehr hierher. Beyoğlu war Erdoğan schon lange ein Dorn im Auge. Sie wollen uns loswerden – die Linken, die Studenten, die politisch Aktiven.“

 

Schon seit Jahren tobt die AKP-Stadtverwaltung, Hand in Hand mit der Regierung in Ankara und privaten Investoren, mit wütender Gier durch das Viertel. Wen die steigenden Mietpreise nicht verjagen, wird durch hastig erlassene Gesetze zum Störfaktor erklärt. Denkmalschutz wird zur Bauanleitung kitschig-historistischer Fassaden umfunktioniert. Das berühmte Emek-Kino, der älteste Kinosaal des Landes, musste schon 2013 einem Einkaufszentrum weichen. Neue Vermietergesetze trieben alteingesessene Geschäfte, darunter auch den museumsartig anmutenden Korsettladen „Kelebek“, der als letzter noch Spuren der Pogrome von 1955 trug, aus dem Viertel. Buchläden, billige Kneipen und kleine Familienrestaurants verschwanden.

 

Markenketten übernahmen die Hauptstraßen, Investoren vertrieben ansässige Mieter mit dem Einrichten von Ferienwohnungshotels und ganzen Airbnb-Häusern aus ihren Wohnungen. Geplant hatte die Regierung ein umfassendes Tourismuspaket, von 45.000 Betten im Viertel wollte der AKP-Bürgermeister von Beyoğlu, Ahmet Misbah Demircan, auf mindestens 150.000 aufstocken.

 

Parallel ließ die Stadtverwaltung – zusammen mit einer Baufirma, an deren Spitze damals Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak saß – einen großen Teil des überwiegend von ärmeren Kurden, Migranten und Trans-Sexarbeiterinnen bewohnten Viertels Tarlabaşı einfach abreißen. Zahlreiche Menschen verloren damit nicht nur bezahlbaren Wohnraum, sondern auch soziale Netzwerke und Rückzugsräume. 2011 trieb das aufsehenerregende Verbot für Restaurants und Bars, Freisitze zu betreiben, zahlreiche Betriebe in den Ruin. Begründet wurde die Maßnahme mit zu engen Fluchtwegen und Sicherheitsbedenken, doch das Gerücht, Erdoğan habe das Einsammeln von Tischen und Stühlen persönlich angeordnet, nachdem Kneipengänger seinem im Gewühl von Beyoğlus Straßen steckengebliebenen Autocorso zuprosteten, hält sich hartnäckig. Terroranschläge und außenpolitische Krisen ließen in den letzten zwei Jahren Tourismus und Großkapital versiegen. Investoren zogen sich zurück. Der Stadtsoziologe Yaşar Adanali warnte vor genau diesem Effekt. „Zurück bleiben wie vom Krieg versehrte Straßen, halbfertige Baustellen und leere Läden“, schreibt er. Zahlreiche Geschäftsfronten auf der noch vor Kurzem so begehrten Istiklâl Caddesi werben jetzt halbherzig um neue Mieter.

Das Tisch- und Stühleverbot nennt Adanali einen Versuch der AKP-Stadtverwaltung, Bürger vom öffentlichen Raum abzuschneiden und Beyoğlu „zu disziplinieren“. Nicht nur die schier zügellose Gier der Investoren sei schuld am raschen „Absturz“ seines Viertels, sondern die Regierung habe aktiv daran gearbeitet, Beyoğlu nach ihren Vorstellungen umzuformen. So sieht das auch Incilay Erdoğan, die als Mitglied der regierungskritischen Istanbuler Ärztekammer während der Gezi-Proteste Demonstranten medizinisch versorgte und dafür, zusammen mit zahlreichen Kollegen, mit Disziplinarverfahren abgestraft wurde.

 

„Beyoğlu ist ein Ort, der für alle da ist. Das ist in Istanbul einzigartig“, sagt Incilay Erdoğan. „Nirgends sonst können Roma-Frauen, linke Intellektuelle, arme kurdische Kinder, Lesben und Schwule, Flüchtlinge, aber auch konservative Familien nebeneinander leben und Platz finden.“

 

Für die junge Ärztin ist der von der Regierung vorangetriebene sozialdemografische Wandel ein Krieg mit anderen Mitteln. „Hier haben sie keine Bomben und Geschosse benutzt wie in den kurdischen Städten Şırnak, Cizre oder Diyarbakir. Die Methode war langsamer, heimlicher. Aber das Ergebnis bleibt gleich: Wer nicht ins Bild passt, wer unerwünscht ist, wer sich nicht anpassen will, muss gehen. Die Stadt wird zu einer öden Wüste.“

 

Auch die Wut darüber, dass das bunte, aufsässige und vor allem auch für alle zugängliche Beyoğlu gegen ihren Willen immer eintöniger und unerschwinglicher wurde, trieb die Menschen 2013 auf die Straße. Regierungskritiker und Anti-Gentrifizierungsaktivisten unterstellen Erdoğan Revanchismus. Der Geist des Gezi-Aufstandes treibe den Präsidenten noch immer um. Wie sonst sei es zu erklären, dass der Staatschef zwei in Ankara wegen ihrer Entlassung hungerstreikende Akademiker „wegen der Gefahr eines Gezi-artigen Aufstands“ einsperren und den öffentlichen Platz ihres friedlichen Protests geradezu militaristisch abriegeln ließ?

 

Erdoğans Rede zur Wiedereröffnung des Rathauses von Beyoğlu vor fast zwei Jahren ließ keine Zweifel an seinen Absichten. „Beyoğlu hat 1918 Besatzer erlebt. Es hat jene erlebt, die sich nach der alten Türkei sehnen“, sagte Erdoğan. Die „alte Türkei“: das ist für ihn die Zeit der Kemalisten und Aufsässigen, aber auch eine Zeitrechnung vor und nach dem Ausschalten aller politischen Gegner. „Beyoğlu hat auch die Gezi-Demonstranten erlebt. Und Beyoğlu wird hoffentlich auch der Ort sein, wo wir anfangen werden, die neue Türkei aufzubauen.“ Die Bauarbeiten dafür sind – wortwörtlich – in vollem Gang. Das während der Gezi-Proteste gegebene Versprechen des Istanbuler Bürgermeisters Kadir Topbaş, man werde die Bevölkerung noch wegen jedem „Verrücken einer Bushaltestelle“ um ihre Meinung fragen, ist längst vergessen. Zwar steht der Gezi-Park. Noch. Denn im Februar wurde der Grundstein für ein weiteres Drohprojekt Erdoğans gelegt: eine große Moschee auf dem Taksim-Platz und damit ein Bauvorhaben, das jahrzehntelang wegen zu großem Widerstand vonseiten der Opposition und der Bauämter wiederholt auf die lange Bank geschoben worden war. Architekt ist Şefik Birkiye, der sich bereits mit dem Entwurf von Erdoğans überdimensionalen – und von einem Verwaltungsgericht als illegal erklärten – Präsidentenpalast einen Namen gemacht hat.

 

Die Anthropologin Ayşe Çavdar, die seit Jahren über die Stadtpolitik der islamisch-konservativen AKP forscht, hält die Diskussion um die „Rachelust“ Erdoğans für überholt. „Die Zeit für Rache ist vorbei“, sagt sie. „Was bleibt ist der Neid auf das, was die anderen darstellen. Erdoğan fragt sich, warum seine Partei es nicht schafft, die Bewunderung der Kurden oder der Säkularen zu erringen. Deswegen zerstören sie jetzt alles, was ihren Gegnern etwas bedeutet.“ Die konservative Elite, die jetzt an der Macht sei, gehe nicht nur mit Beyoğlu und Istanbul, sondern mit dem gesamten Land um, als sei es unbewohnt und beliebig formbar. Pessimistisch ist sie deswegen nicht. „Beyoğlu ist kein Ort, dem die Mächtigen einfach ihren Stempel aufdrücken können.“

Constanze Letsch
Constanze Letsch ist Journalistin und Doktorandin.
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