Freiheit und Demokratie stehen auf dem Spiel

Selahattin Demirtaş vor Gericht

Im September wird Selahattin Demirtaş, der populäre Vorsitzende der zweiten Oppositionspartei im türkischen Parlament, nach zehn Monaten Gefängnis endlich die Gelegenheit erhalten, sich vor einem Richter zu der gegen ihn erhobenen Hauptklage, aufgrund derer er in Untersuchungshaft sitzt, zu verteidigen. Wie den anderen inhaftierten Parlaments­abgeordneten seiner Partei werden auch ihm unzählige andere Sachverhalte zur Last gelegt und seine Teilnahme über Videoschaltung an regelmäßig vor verschiedenen Gerichten stattfindenden Verhandlungen ist mittlerweile Teil seiner Routine im Gefängnis.

 

Der späte Beginn der Hauptverhandlung ist keineswegs darauf zurückzuführen, dass die Staatsanwaltschaft Monate für die 500-seitige Anklageschrift gegen den Politiker gebraucht hätte, der in den türkischen Parlamentswahlen vom November 2015 von fünf Millionen Wählern unterstützt wurde. Die Anklageschrift war bereits im Januar fertig. Der eigentliche Grund für die Verzögerung bestand darin, dass der türkische Präsident wie auch seine Regierungspartei Demirtaş vor und nach dem im April stattfindenden Referendum, bei dem sie eine knappe Mehrheit für eine Verfassungsänderung zugunsten einer größeren Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten erzielten, um jeden Preis aus dem politischen Verkehr ziehen wollten. Demirtaş zusammen mit seiner vormaligen Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und neun weiteren führenden Parlamentariern der Demokratischen Partei der Völker (HDP) einzusperren und ihnen das Recht auf Kaution zu verweigern, schien eine wirksame Methode, um den lautstärksten Teil der parlamentarischen Opposition mundtot zu machen. Nach Entzug ihrer parlamentarischen Immunität im Rahmen einer kontroversen Abstimmung im Mai 2016 wurden die meisten Abgeordneten der HDP – die mittlerweile über 57 Sitze im Parlament verfügte – mit Klagen überzogen. Zwei Abgeordnete – unter anderem die Co-Vorsitzende Yüksekdağ – verloren ihren Sitz, nachdem das oberste Berufungsgericht der Türkei das letztinstanzliche Urteil gegen sie bestätigt hatte.

 

Die Tatsache, dass die Hauptverhandlung gegen Demirtaş im September stattfinden wird, sowie die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen sind ausschließlich politischen Motiven geschuldet. Die Staatsanwaltschaft legt ihm dutzende Vergehen zur Last: Er soll führendes Mitglied der PKK sein, terroristische Propaganda verbreitet, Verbrechen und Verbrecher verherrlicht, zu Gewalt aufgerufen sowie nicht genehmigte Demonstrationen organisiert und an diesen teilgenommen haben. Dafür droht ihm möglicherweise eine Freiheitsstrafe von ca. 140 Jahren.

 

Ich habe zwölf der Hauptanklageschriften einschließlich jener gegen Demirtaş geprüft, aufgrund derer eine überlange Untersuchungshaft für Abgeordnete der HDP verhängt wurde. Ein Großteil des Beweismaterials besteht aus ihren politischen Reden. Beweise für ein Verhalten, das möglicherweise eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation oder wegen separatistischer Aktivitäten rechtfertigen könnte, liegen nicht vor. Im Fall von Demirtaş enthält die Anklageschrift eine formelhafte Schilderung des Werdegangs des bewaffneten Arms der PKK / KCK; nach einer Beschreibung der vermeintlichen Organisationsstruktur sind politische Reden und endlose Seiten voller Transkripte abgehörter Anrufe und abgefangener Gespräche aufgeführt. Laut Staatsanwaltschaft wird dadurch eine Verbindung zwischen Demirtaş und der Nichtregierungsplattform in Diyarbakır, die sich „Kongress der Demokratischen Gesellschaft“ nennt und laut Staatsanwalt zur PKK / KCK gehört, nachgewiesen. Sieht man sich die Gespräche genauer an, fällt es schwer, Anhaltspunkte für irgendwelche kriminellen Aktivitäten zu finden.

 

Wesentlicher Bestandteil der Klageschriften gegen Demirtaş und die anderen Politiker der HDP ist die Bezugnahme auf eine öffentliche Erklärung der Partei vom 6. Oktober 2014, in der sie zu öffentlichen Protesten gegen die Politik der türkischen Regierung infolge des Angriffs des Islamischen Staates (IS) auf Kobane im benachbarten Syrien aufruft. Die Staatsanwaltschaft betrachtet diese Erklärung als Aufforderung zum bewaffneten Aufstand und zeichnet daraufhin Fall für Fall das tragische Ende der zwei Tage dauernden gewaltsamen Proteste nach: Bei ihnen gab es bis zu 50 Tote in Städten in der südöstlichen Türkei sowie erhebliche Sachschäden. Natürlich ist es die Pflicht der zuständigen Behörden, Ermittlungen durchzuführen, um diese Verbrechen aufzuklären, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen. Allerdings gibt es keinerlei Beweise dafür, dass die katastrophalen Ereignisse unmittelbar auf den Protest-Aufruf der HDP zurückzuführen waren oder dass die Partei eine solche Entwicklung auch nur irgendwie hätte voraussehen können. Abgesehen von der Verurteilung der Männer, die für den brutalen, in Diyarbakır begangenem Mord an dem 16-jährigen Schüler Yasin Börü und drei weiteren jungen Männern mit einem konservativen religiösen Hintergrund verantwortlich waren, war die Staatsanwaltschaft bislang nicht besonders erfolgreich, was die Ermittlungen der anderen Todesfälle, die sich an jenen zwei Tagen ereigneten und vorwiegend Anhänger der Partei von Demirtaş betrafen, anbelangt.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Selahattin Demirtaş vorgeschobene und rein politisch motivierte Beschuldigungen zur Last gelegt werden, ohne dass einschlägige Beweise für Strafhandlungen vorlägen.

 

Für viele Menschen in Deutschland, die die Entwicklungen in der Türkei im Laufe der letzten Jahrzehnte verfolgt haben, gibt es eindeutige Parallelen zwischen der Situation von Demirtaş sowie seiner HDP-Partei und der Festnahme im Jahr 1994 von Leyla Zana, Orhan Doğan, Hatip Dicle und Selim Sadak, Abgeordneten der Demokratiepartei (DEP). Nach Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wurden Zana und ihre Parteigenossen aufgrund vorgeschobener Terrorismusanklagen festgenommen und danach in einer Gerichtsverhandlung, die vom Europäischen Gerichtshof als regelwidrig beschrieben wurde, verurteilt. Sie verbrachten alle zehn Jahre in Haft.

 

Es ist zu hoffen, dass die erste Anhörung von Selahattin Demirtaş, die für den 6. September 2017 anberaumt ist, in Europa so aufmerksam verfolgt wird, wie es die Umstände erfordern. Ein Appel für seine Freilassung während dieser Verhandlung wäre eine angemessene Maßnahme, um für das Recht auf Versammlungsfreiheit, politische Teilhabe und Meinungsfreiheit, d. h. wesentliche Elemente einer demokratischen Ordnung, einzutreten und klarzustellen, dass die Politik der türkischen Regierung, die darin besteht, Millionen von hauptsächlich kurdischen Wählern das Stimmrecht zu entziehen, die Zukunft der Demokratie in diesem Land genauso bedroht wie die allmähliche Ausschaltung der unabhängigen Medien in der Türkei.

Emma Sinclair-Webb
Emma Sinclair-Webb ist Direktor von Human Rights Watch in der Türkei
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