Quo vadis, Europa?

Zwischen Vielfalt und Kompromissen

Quo vadis, Europa? Diese Frage hat nicht nur zahlreiche Veranstaltungstitel geschmückt, sondern seit jeher Europäerinnen und Europäer umgetrieben. Gerade kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament sollten wir uns diese Frage aber nicht nur rhetorisch stellen – denn sie kann jeden Einzelnen aus ganz individuellen Gründen am 26. Mai zur Wahlurne führen. Wie selten zuvor stellen die Wahlen in diesem Jahr eine Richtungswahl dar. Welchen Weg wird Europa einschlagen? Wollen wir ein Zaungast globaler Entwicklungen sein oder ein Architekt der Welt von morgen?

 

Das Europäische Parlament ist das Herzstück der europäischen Demokratie. Die anstehenden Wahlen stellen die legitimierende Grundlage dafür dar und bestimmen, wer die ca. 500 Millionen Europäer in den kommenden fünf Jahren auf europäischer Ebene vertritt. Jeder Einzelne hat die Möglichkeit, seinen Vertreter ins Europäische Parlament zu wählen und seine Vorstellungen von der Zukunft der EU zum Ausdruck zu bringen.
Der Wettbewerb innerhalb des pro-europäischen Spektrums zeigt, dass es verschiedene denkbare Modelle für die Zukunft der EU gibt. Aufzuzeigen, wo es noch Handlungsbedarf gibt, und konstruktive Kritik zu äußern gehört zur europäischen Demokratie dazu. Die Parteien legen ihre Schwerpunkte vor und erklären, wofür sie sich auf europäischer Ebene einsetzen wollen. Der Spielraum für den Wettstreit zwischen ihnen ist Ausdruck für unser europäisches Demokratieverständnis. Das System insgesamt abzulehnen hingegen ist meines Erachtens nicht mehr Teil dieses Spielraums.

 

Die Voraussetzung für funktionierende Demokratie ist offene, transparente und ehrliche Kommunikation über politische Absichten. Dabei geht es nicht um einseitige „Aufklärung“, sondern einen offenen Dialog. Über Europa zu kommunizieren ist natürlich nicht allein Aufgabe der europäischen Institutionen in Brüssel, sondern eine gemeinsame und geteilte Verantwortung aller politischen Akteure im europäischen demokratischen Raum. Dazu gehören sowohl nationale, regionale als auch kommunale Akteure. Dialogpartner sollte möglichst jeder einzelne Bürger sein. Durch Bürgerdialoge und -initiativen, Online-Befragungen und Gesprächsangebote auf sozialen Medien gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich am europäischen Diskurs zu beteiligen.

 

Mich stimmt aber insbesondere hoffnungsvoll, dass in den letzten Monaten in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern eine neue Begeisterung für Europa spürbar geworden ist. Initiativen aus der Bevölkerung heraus, aus der Zivilgesellschaft, von den Gewerkschaften oder von Wirtschaftsverbänden haben in einem bis dato nicht dagewesenen Maße ihr Bekenntnis zur EU verbreitet und zur Europawahl aufgerufen. Diese Akteure schaffen es oft besser als wir Institutionen, Leidenschaft, Freude und Emotionen mit Europa zu verbinden und dies zu vermitteln.

 

In diesem Jahr feiern wir das 40. Jubiläum der ersten Europawahl 1979. Von der vor zwei Jahren verstorbenen großen Europäerin und ersten Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, stammt das Zitat: „Wenn sich Europa hohe Ziele steckt, wird Europa sich Verhör verschaffen und seine starken Werte verteidigen können: Frieden, die Menschenrechte, größere Solidarität zwischen den Reichen und Armen.“

 

Das gilt heute mehr denn je. Keiner in Europa kann heute die globalen Herausforderungen allein stemmen: Digitalisierung, Klimawandel, globale Sicherheit etc. Es gibt daher nur noch zwei Arten von Ländern in der EU: die Kleinen, und die, die schon wissen, dass sie klein sind.

 

Beispiele wie die Verhandlungen über Wirtschaftsfragen mit den USA und China zeigen, dass wir dort stark sind, wo wir gemeinsam und als vereintes Europa auftreten. Kommissionspräsident Juncker nennt dieses Prinzip „weltpolitikfähig sein“. Die EU hat wiederholt bewiesen, dass sie fähig ist, Veränderungen auf der globalen Ebene anzustoßen und durchzusetzen. Das Subsidiaritätsprinzip bleibt dabei ein zentraler Vektor unseres Handelns. Wir müssen daher Europa in jenen Bereichen die Instrumente geben, in denen wir heute Europas Handlungsschwäche beklagen, und wir müssen umgekehrt auf Regelungen verzichten, wo diese nicht notwendig sind und andere besser zum Handeln geeignet sind. Gemeinsam als EU haben wir die Chance und Verantwortung, die Zukunft mitzugestalten. Ein gutes Beispiel ist die seit nun einem Jahr geltende europäische Datenschutzgrundverordnung, mit der wir eine internationale Vorreiterrolle eingenommen haben. Diese gewährleistet nicht nur, dass unsere personenbezogenen Daten europaweit mit den weltweit höchsten Standards geschützt werden, sondern die Praxis hat auch gezeigt, dass das europäische Modell anderen Ländern und regionalen Organisationen als Vorlage für deren eigene Ausgestaltung dient. Verlässliche Regeln, die Vertrauen und Datensicherheit für das digitale Zeitalter schaffen, werden im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung an Bedeutung gewinnen.
Das erste Foto des schwarzen Lochs, das durch ein EU-gefördertes Forschungsprogramm möglich geworden ist, zeigt unser ungebrochenes Potenzial dort, wo unsere Kernkompetenzen liegen. Diese sollten wir auch in Zukunft weiter fördern und unsere Errungenschaften selbstbewusst verteidigen. Auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz und Digitalisierung ist unser Handeln jetzt entscheidend. Wir haben es in der Hand, der Welt von morgen eine europäische, wertebasierte Handschrift zu verleihen.

 

Die Reform des Urheberrechts ist ein weiterer Schritt, uns für die Zukunft zu rüsten. Das Urheberrecht muss sich an die neuen Gegebenheiten anpassen. Mit der Neuregelung wird die Verhandlungsposition der Kreativen und Rechteinhaber gestärkt. Kreative sollen einen Anspruch haben, für ihre Arbeit entlohnt zu werden. Neu ist, dass die Plattformen, wenn sie Inhalte veröffentlichen wollen, von den betreffenden Rechteinhabern eine Genehmigung einholen müssen. So kann die Ausgewogenheit zwischen Urhebern und Künstlern und ihren Produzenten und Verlagen verbessert werden.

 

Europa lebt von seiner Vielfalt, die Kompromissbildung nicht immer leicht macht. Gerade deshalb ist die Fähigkeit des Kompromisses ein Wesensmerkmal der europäischen Demokratie. Die Europawahlen und die damit einhergehenden Weichenstellungen sind Ausdruck der demokratischen Legitimität der EU, welche sich aber auch durch die Erfolge und Resultate europäischen Handelns speist.

 

Quo vadis, Europa? Lassen Sie uns diese Frage am 26. Mai bei den Europawahlen beantworten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

Richard Kühnel
Richard Kühnel ist Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland.
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