Was wird aus Europa?

Was kommt nach dem Brexit-Referendum?

Deutlicher als dies die formale Trennung nahelegt, kann es zu einem kulturellen Trennungsprozess kommen. Dies wäre zu bedauern, erscheint aber im Falle des Austritts unausweichlich. Großbritannien wird an europäischen Kulturförderprogrammen der EU dann ebenso wenig teilnehmen können wie am Erasmus-Programm und an strukturellen Förderprogrammen, die bekanntlich oft mehr bewirken als die eigentliche Kulturförderung. Der Wegfall der Forschungsförderung kann zu einem deutlichen Rückgang des Wissenschaftleraustauschs führen. Durch all dies werden deutlich weniger Multiplikatoren aus Europa als heute die Gelegenheit bekommen, England kennenzulernen und umgekehrt. Die Entfremdung wird schleichend, aber nicht aufzuhalten sein.

 

In Brüssel werden weniger Engländer zu finden sein als heute. Wegen ihrer Kompetenz, ihrem Pragmatismus und ihrem Engagement für Europa sind die englischen EU-Beamten geachtet. In zahlreichen europäischen Verbänden der Zivilgesellschaft geben die Engländer aus den gleichen Gründen den Ton an. Dies wird der EU schmerzhaft fehlen.

 

Europa wird das Eingangstor in die weltweite angelsächsische Sprach-, Kultur- und Wissenschaftswelt vermissen, das Großbritannien für alle Europäer offen hält. Ohne England gibt es nur zwei, mit Schottland drei EU-Mitgliedsländer mit Englisch als Muttersprache. Irland und Malta sind aber klein und Englisch ist dort nicht die einzige Sprache. Die Bedeutung des angelsächsischen Netzwerks, zum Teil im Commonwealth institutionalisiert, darf man nicht unterschätzen. Die kulturellen Verbindungen Englands mit Kanada, Australien, Neuseeland, Indien, Pakistan und Südafrika, von denen zwei zu den aufstrebenden BRICS-Staaten gehören, und mit rund 50 kleineren Ländern sind eng, ebenso die mit den USA. Die Rituale des globalen Verkehrs unter Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern sind englisch bestimmt. Wer heute schreibt, wird dann weltweit wahrgenommen, wenn er oder sie das auf Englisch tut. In der Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist das alles wichtig.

 

Großbritannien hat aber ein viel größeres Problem. Es muss neben immensen wirtschaftlichen, administrativen und politischen Herausforderungen auch eine kulturelle meistern. Das Land befindet sich in einer fundamentalen Identitätskrise. Nicht nur setzt allein die Möglichkeit, dass das Vereinigte Königreich nach über 300 Jahren auseinanderbricht, vielen Briten auch emotional zu. Die Engländer müssen sich auch mit dem Phänomen des Regionalismus auseinandersetzen. Seit den 1990er Jahren laborieren wechselnde Regierungen unter dem Stichwort „devolution“ mit der Einrichtung von Regionen herum. Der Erfolg ist bescheiden. Wie es weiter gehen soll, weiß niemand. Nur die Region London hat dank profilierter Bürgermeister – Ken Livingston und Boris Johnson – ein Profil gewinnen können. Die Selbstfindung nach innen ist daher für die Briten eine ebenso schwierige Aufgabe wie die nach außen. Wegen Brexit haben viele Engländer diesen Prozess verdrängt. Er wird wiederkommen und gewiss nicht dadurch erleichtert, dass er kulturell kaum unterfüttert ist. Regionalisierung kann nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur als administrative Maßnahme gesehen wird, sondern mit einer kulturellen Identität verknüpft ist. Diese zu wecken, ist schwierig genug.Hinzu kommt aber eine verkrustete und in vielfacher Hinsicht unaufgearbeitete Erinnerungskultur, die letztlich die Ursache für das Austrittsvotum war.

 

England begreift sich nach wie vor, besonders in seinen politischen und wirtschaftlichen Eliten, primär als Siegermacht eines Krieges, der vor mehr als zwei Generationen geendet hat. Die damals jüngsten aktiv daran Beteiligten, darunter die Königin, sind heute etwa 90 Jahre alt. Tony Blairs Versuch, dem Land als „Cool Britannia“ ein neues Gesicht zu geben, hat nicht verfangen. Was wir heute erleben, ist eine kulturelle Verunsicherung, die von markigen Sprüchen, wie sie Nigel Farage oder Boris Johnson ablassen, nicht mehr übertüncht werden kann. Die Idee, politische Kompetenzen nach Westminster, dem Sitz des Parlaments, zurückzuholen, ist kein Ersatz für ein schlüssiges, von Gelassenheit und dem Blick in die Zukunft geprägtes Selbstverständnis. Viele Engländer wissen das sehr gut. Die Schotten spielen da eine ganz andere Melodie. Es sind die, die gern in Europa bleiben würden.

 

Vielleicht behalten sie letztlich die Oberhand. Ebenso aber könnte Brexit uns lehren, dass die EU nicht der Weg zur großen europäischen Einigung ist. Wirtschaft, Finanzen, Währung, Sicherheit und Migration sind gewiss Themen von großer Bedeutung. Die EU soll sich ihrer annehmen. Aber angesichts des skandalösen Unwillens der nationalen Regierungen, ihre Partikularinteressen zurückzustellen und der unübersehbaren Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, müssen wir vielleicht ein neues, zivilgesellschaftlich geprägtes europäisches Projekt auflegen. Bekanntlich hat Jean Monnet gesagt: „Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur«“. Wie das gehen soll, wissen wir noch nicht. Vorschläge sind willkommen. Gewiss aber brauchen wir dazu die Briten und die Schweizer und alle, die zur Kultur Europas schon seit jeher Wichtiges beitragen.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]

Rupert Graf Strachwitz
Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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