London im Juli 2016: Vor einem Monat hat das Land über seinen Verbleib in der Europäischen Union abgestimmt. Die Entscheidung für einen Austritt hat ganz Europa erschüttert. Am schlimmsten hat es das Land erwischt, das diese Entscheidung herbeigeführt hat. Menschen und Institutionen sind gleichermaßen betroffen – vor allem jene, die sich einen Verbleib in der Europäischen Union gewünscht und dafür votiert haben.
Der Schock sitzt tief. Wie tief, mag folgende Szene beschreiben: Londoner Kunstfreunde sind zur Vernissage einer irischen Künstlerin in das Gebäude der Europäischen Kommission eingeladen. Vor einem halben Jahr wäre der Ablauf vorhersehbar gewesen. Eine freundliche Begrüßung, gefolgt von fachkundigen Erläuterungen, begleitet von einem Smalltalk über die ausgestellte Kunst, das Wetter und vielleicht noch den Londoner Verkehr. Nach einer Stunde und einem Glas Wein wäre man in der Gewissheit, sich und die Welt zu verstehen, auseinandergegangen.
Doch jetzt ist das anders. Die Eröffnung gerät zu einem politischen Manifest für Europa. Die Anwesenden hören Stellungnahmen und Erklärungsversuche. Die Begrüßung ist eine Mischung aus Entschuldigung und Bekenntnis. Der für Irland sprechende Botschafter bekundet ebenfalls Bestürzung, beschwört die guten Beziehungen beider Länder und versichert seine Bereitschaft, alles daran zu setzen, diese fortzusetzen. Der anschließende Smalltalk nimmt keinen Bezug auf die üblichen Standardthemen, sondern dreht sich ausschließlich um das Brexitvotum. Jeder berichtet aus seinem Umfeld, fragt nach, sucht die Gewissheit nicht allein zu sein. Den europäischen Gästen wird mit einer großen Offenheit begegnet. Das Nachsehen hat die irische Künstlerin, deren Exponate allenfalls Dekoration sind.
Begebenheiten wie diese konnte man in den letzten Wochen in London täglich erleben. Während sich das Land politisch zu sortieren beginnt, stellen sich viele Kunst- und Bildungsinstitutionen vor allem zwei Fragen: Wie konnte das passieren und was hätten wir dagegen tun können? Die Antwortversuche sind selbstquälerisch, denn bereits Wochen vor dem Referendum waren in den Umfragen die Brüche in der Gesellschaft und damit das wahrscheinliche Wahlverhalten inklusive knappem Ausgang gut erkennbar. Das Gefühl „irgendwie versagt zu haben“ sitzt tief.
Für eine konzeptionelle oder regionale Antwort ist es zu früh. Zunächst gilt es, die nächste Zeit zu überstehen, was im Augenblick noch nichts mit einem geänderten Förderungsverhalten aus EU-Mitteln zu tun hat. Der britische Kulturbetrieb ist seit den Kürzungswellen vergangener Jahre hochgradig von inländischen Drittmitteln abhängig. Was aber, wenn aufgrund wirtschaftlicher Einbrüche oder politisch bedingter Neuverteilung die Drittmittel weiter abgeschmolzen werden? Vor allem viele kleinere Kulturbetriebe wären davon unmittelbar existenziell betroffen.
Aber auch renommierte Institutionen wie beispielsweise die großen Universitäten sind beunruhigt, nehmen sie doch erste Anzeichen eines Rücklaufs europäischer Studienbewerber wahr. Dass schon jetzt Märkte außerhalb Europas intensiver beworben werden, zeigt, wie nervös man ist.
Während man im Fall von London davon ausgehen kann, dass sich diese Stadt behaupten und aufgrund ihrer Internationalität und Innovationskraft den Anschluss an Europa nicht verlieren wird, stellen sich die aktuellen Entwicklungen mit Blick auf die anderen Landesteile zum Teil dramatischer dar. Wie werden mögliche Konjunkturdellen hier aufgefangen? Und vor allem: Was passiert hier, wenn die strukturellen EU-Förderprogramme dann tatsächlich einmal auslaufen?
Ebenso offen ist, wie sich das Brexitvotum auf das Erlernen von Fremdsprachen auswirken wird. Als Folge einer volatilen Bildungspolitik spielen Fremdsprachenkenntnisse im persönlichen Bildungsportfolio seit mehreren Jahren keine entscheidende Rolle mehr. Entsprechend negativ hat sich die Fremdsprachenkompetenz im Lande entwickelt. Die Regierung Cameron versuchte dem zuletzt durch die verpflichtende Wiedereinführung einer Fremdsprache an Primarschulen entgegenzuwirken. Die Bereitschaft vieler Schulen, die hierzulande sehr viel mehr Freiheiten in der Ausgestaltung ihrer schulischen Angebote genießen als vergleichbare deutsche Einrichtungen, war freundlich, aber nicht enthusiastisch. Bereits während der laufenden Brexitkampagnen hat das Goethe-Institut festgestellt, dass sich einzelne Primarschulen von den Vorgaben aus Westminster zu verabschieden begannen.
Welche Rolle kommt dem Goethe-Institut in diesen Tagen zu? In Glasgow wie London sind wir gefragte Gesprächspartner. Während bis zum Referendumsentscheid der Europaschwerpunkt des Goethe-Instituts britischerseits eher nachrangig eingeschätzt wurde, wird er jetzt als großer Vorteil wahrgenommen. Die Bereitschaft, gemeinsam eine konzeptionelle Neuausrichtung zu wagen, ist ebenso groß wie der Wunsch nach Fortsetzung von Kontinuität. Das Goethe-Institut nimmt dies aktiv auf.
Die große Herausforderung bleibt, diejenigen zu erreichen, die für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. Im Gegensatz zu ihren Kampagnenführern haben sie sich mehrheitlich nicht artikuliert und tragen auch jetzt nach dem Referendum nicht viel zu den Debatten bei. Doch hierin sind sich alle einig: Insbesondere junge Menschen benötigen Angebote, damit eine neue tragfähige Beziehung zwischen Europa und dem Vereinigten Königreich etabliert werden kann.