Was wird aus Europa?

Was kommt nach dem Brexit-Referendum?

Was ist Europa ohne Shakespeare, ohne den englischen Landschaftsgarten, ohne eine Fülle von britischen Künstlern in Hunderten von Jahren? Was wäre Europas politische Kultur ohne Magna Carta, die Bill of Rights oder die schottische Aufklärung? Absurde Fragen fürwahr, aber sie drängen sich auf angesichts der wenngleich sehr knappen Mehrheit, mit der Großbritanniens Bürgerinnen und Bürger für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. Sie tun gegen eine wahrhaft erdrückende, in 2000 Jahren gewachsene Beweislast wirklich so, als gehöre ihre Insel eigentlich gar nicht zu Europa, klammern sich an Winston Churchill, der 1946 die Vereinigten Staaten von Europa einforderte, aber das British Empire damals nicht einbringen wollte. Ob Churchill heute anderer Meinung wäre, ist Spekulation. Meine Vermutung ist, er wäre es, denn er wäre klug genug zu erkennen, wie radikal sich die Welt in den letzten 70 Jahren verändert hat. Das Empire gibt es nicht mehr und wenn der Austritt tatsächlich vollzogen wird, wird es wohl auch kein Vereinigtes Königreich mehr geben. Briten, die es bedauern, nach fast einem halben Jahrhundert die Europäische Union wieder zu verlassen, sagen, das sei ungefähr so wie der Versuch, aus Rührei wieder intakte Eier zu machen. Absurd indeed!

 

Noch ist nichts entschieden. Zwar hat die britische Regierung seit dem Referendum immer wieder betont, sie werde das Votum respektieren. Doch haben sich so viele Gründe, welche die Befürworter des Austritts ins Feld geführt hatten, als falsch erwiesen, während sich die Schwierigkeiten, den Austritt tatsächlich zu bewerkstelligen, unverständlicherweise erst jetzt in ihrem gigantischen Ausmaß offenbaren, dass eine Kapitulation davor nicht ganz ausgeschlossen erscheint. Noch ist nicht einmal abzusehen, wann – oder ob – der Austrittsmechanismus in Gang gebracht wird. Noch besteht zwischen den verbleibenden 27 EU-Mitgliedern kein Einvernehmen darüber, wie streng oder konziliant gegebenenfalls damit umgegangen werden soll, und noch hat die britische Regierung nicht zu erkennen gegeben, welche Verhandlungsstrategie sie verfolgen will. Sicher ist nur, dass es für alle Beteiligten sehr kompliziert wird.Sicher ist allerdings auch, dass Schottland und ansatzweise auch Nordirland bereits intensiv darüber nachdenken, was sie tun sollen, wenn der Austritt tatsächlich erfolgt. Die mehr oder weniger realistischen Hilfskons­truktionen erscheinen aus heutiger Sicht gegenüber dem klaren Schnitt relativ unattraktiv. Und auch wenn ein selbstständiges Schottland seine Mitgliedschaft formell neu zu beantragen hätte, wäre doch der Beitrittsprozess relativ einfach, da ja Schottland, kulturell mit Europa von jeher engstens verflochten, seit 43 Jahren alle Bedingungen der Mitgliedschaft erfüllt.

 

Der ganze Prozess kann mehrere Folgen haben: Natürlich steht nicht zu befürchten, dass Simon Rattle nicht mehr in Deutschland dirigieren, David Chipperfield und Norman Foster nicht mehr in Deutschland bauen, Norman Davies, Christopher Clark und Brendan Simms nicht mehr über Deutschland schreiben oder Neil McGregor nicht mehr für das Humboldt Forum arbeiten werden. Auch künftig werden Deutsche wie Martin Roth Museen in London leiten. Nicht zuletzt Neil McGregors beharrliche Bemühungen haben dafür gesorgt, dass das Deutschlandbild vieler Briten heute differenzierter und positiver ist als noch vor zehn Jahren. Ihre Neugierde auf Deutschland ist groß. Und die Deutschen werden sich ihre stille Liebe für alles Englische – einschließlich der Königin – auch nicht nehmen lassen. Der Austausch ist rege und wird es bleiben. Und doch könnte alles ein wenig anders werden. Rechtliche und steuerliche Bedingungen ändern sich, Vertragsabschlüsse werden komplizierter und wer weiß, was sich auf beiden Seiten Verwaltungen alles ausdenken können.

Rupert Graf Strachwitz
Rupert Graf Strachwitz ist Politikwissenschaftler und leitet das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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