Brexit-Blues

Die Wunden des Brexit verheilen, doch die Wehmut bleibt. Nachruf auf ein Großbritannien, das es vielleicht nie gegeben hat

„Niemals werden die Briten die Europäische Union verlassen“. Jedem, der sich bei mir nach dem Ausgang des britischen EU-Referendums erkundigte, hielt ich meine Überzeugung entgegen, dass die Bewohner des Vereinigten Königreichs vernünftig, pragmatisch und gefeit sind gegen ideologische Verwirrungen und populistischen Eifer. Nicht trotz, sondern wegen ihrer stolzen parlamentarischen Tradition würden sie sich nicht von der EU abwenden.

 

Leider sollte ich nicht Recht behalten. Nach einem Wahlkampf, der an Panikmache, Nabelschau und Trostlosigkeit nur schwer zu überbieten war, stimmten 17,4 Millionen Briten gegen die EU – und damit gegen eine engere europäische Zusammenarbeit, gegen eine gemeinsame europäische Identität und gegen eine Freizügigkeit, von der sie selbst so rege Gebrauch machen.
Der Brexit markiert eine Zäsur. Seine historischen, ökonomischen und politischen Auswirkungen werden gewaltig sein – für Großbritannien und Europa. Doch über Konjunktureinbrüche und Investitionslücken hinaus berührt der Brexit auch ganz persönliche Schicksale. Wer der Arbeit, dem Studium oder der Liebe auf die Insel gefolgt ist, blickt jetzt in eine bange Zukunft. Seine Lebensgrundlage wird im Brexit-Poker zur Verhandlungsmasse.

 

Auch für mich persönlich ist der Brexit ein Schlag. Er erschüttert das Bild eines Landes, das einst meine Heimat war – eine kurze, aber intensive Beziehung, die 2012 ihren Anfang nahm. Noch während ich mit dem Koffer durch den Bahnhof Victoria irrte, hatte mich London bereits überwältigt. Wie sollte man einer Stadt auch nicht verfallen, die vor Energie nur so strotzt, an der man den Weltenlauf spürt und die jeden Fremden scheinbar mühelos in ihre offenen Arme empfängt. London ist eine Stadt, die viel nimmt, aber noch mehr gibt – und von der man viel lernen kann, über Gelassenheit, über Haltung und vor allem über Toleranz.

 

Höhepunkt meiner London-Er-weckung war die Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2012. Dem Regisseur Danny Boyle gelang es, das nationalistische Geprotze dieser Zeremonien zu transzendieren und sein Land, frei nach Shakes­peares „The Tempest“, als Insel der Wunder zu inszenieren: Die Queen im Fallschirm, tanzende Krankenschwestern und ein tapsiger Blondschopf als Chef-Animateur – London zeigte sich als fantastischer Gastgeber, weltoffen und selbstbewusst. Nicht nur die Welt sah Großbritannien in einem neuen Licht – auch die Briten gefielen sich in dieser Rolle, und ein wohliges Gefühl legte sich einen Sommer lang über das Land.
Vier Jahre später ist von diesem Gefühl nichts mehr übrig.

 

Der Blondschopf, mittlerweile Außenminister und laut seinem französischen Amtskollegen ein „pathologischer Lügner“, hat sein Land aus der EU geführt. Nach einem beispiellosen Akt der Selbstverstümmelung schüttelt die Welt verstört den Kopf. Und während sich die Wolkenschlösser der Brexiteers verflüchtigen, entlädt sich im ganzen Land ein längst vergessen geglaubter Hass.

 

Selbst in meiner früheren Heimat Hammersmith, einem altehrwürdigen und aufstrebenden Bezirk im Westen Londons, zeigt die Fremdenfeindlichkeit ihre hässliche Fratze. Das örtliche polnische Kulturzentrum, 1964 gegründet und ein Symbol für das neue und bunte Großbritannien, wird über Nacht mit rassistischen Parolen beschmiert. Die anschließenden Solidaritätsbekundungen sind nur ein schwacher Trost. Auch in Großbritannien verfangen offenbar die Botschaften der Menschenfänger und Populisten, der Aufwiegler und Scharfmacher. Das Land der geschliffenen Rhetorik und der stoischen Haltung hat weder mit dem Kopf noch mit dem Herz abgestimmt, sondern mit dem Mittelfinger.

Wie konnte es soweit kommen? Sicher, die britische Euroskepsis gehört zur EU-Folklore wie Butterseen und krumme Gurken. Aber an einen Austritt glaubten die Wenigsten. Im Gegenteil: Mit ihrer Unterstützung des Binnenmarkts und der EU-Osterweiterung haben Margaret Thatcher und Tony Blair mehr für das europäische Projekt getan, als manche Föderalisten mit ihren Träumen eines europäischen Bundesstaates. Vorbei. Was bleibt, ist die Ratlosigkeit.

 

War das Votum ein Hilferuf der Globalisierungsverlierer in den vernachlässigten Landesteilen? Ein Denkzettel für eine selbstherrliche EU-Elite? Eine Ohrfeige gegen die massive Zuwanderung, die Großbritannien in den letzten Jahren so stark verändert hat? Oder doch eine Befreiung vom Brüsseler Joch zugunsten einer libertären Utopie, einem Groß-Hongkong mit ungebremstem Turbokapitalismus? Die Antwort bleibt offen. Ein Referendum ist ein stumpfes Schwert, das sein Ziel nur selten trifft, aber eine breite Schneise schlägt.

 

Zuversichtlich stimmt, dass jeder Trennungsschmerz irgendwann vorbeigeht. Man wird sich mit Großbritannien arrangieren, die Handelsschranken öffnen und das Kapital wieder ungebremst fließen lassen. Und doch bleibt die Traurigkeit, dass das Land, das die Herausforderungen des neuen Jahrtausends scheinbar so erfolgreich gemeistert hatte und im kosmopolitischen Glanz so hell erstrahlte, wohl nur in meiner Vorstellung existierte.

Niklas Manhart
Niklas Manhart war zwischen 2012 und 2016 Pressereferent der Deutschen Botschaft in London
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