Internationalisierung unter Kontrolle?

Zur Situation von Hochschulen in Russland

Normalerweise gehört der August für die russische Hochschulwelt zur ereignis- und nachrichtenarmen Sommerpause. In diesem Jahr sorgte aber der Leak eines internen Erlasses des russischen Wissenschaftsministeriums für einige Aufregung. Der Leiter eines russischen Forschungsinstituts hatte größere Teile einer vom zuständigen Minister unterzeichneten Verordnung über den Umgang mit Ausländern an eine unabhängige

 

Wissenschaftszeitschrift weitergegeben. Auf diese Weise wurde bekannt, dass ausländische Besucher fünf Tage im Voraus dem Ministerium zu melden wären, Treffen nur in dafür bestimmten Räumlichkeiten durchzuführen seien und Aufzeichnungsgeräte nur in Ausnahmefällen benutzt werden dürften. Kurzum, ein Kontrollregime, wie es sonst bei vom Staat als sicherheitsrelevant Eingestuftem zur Geltung kommt. In einigen strategischen Forschungsbereichen Russlands – insbesondere in der Militärforschung – sind ähnliche Praktiken zweifellos auch seit jeher gang und gäbe.

 

Jetzt aber sollte der interne Erlass anscheinend alle universitären und außeruniversitären Einrichtungen betreffen, die dem Ministerium unterstehen. Dabei widerspricht er der durchaus breiten horizontalen Vernetzung ohne ministeriellen Genehmigungsweg, die viele russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ausländischen Partnern in so gut wie allen zivilen Forschungsbereichen und insbesondere an Hochschulen pflegen. Genau darauf wies auch der Urheber des Leaks hin. In einem offenen Begleitbrief bezeichnete er den Erlass als „sinnlosen Anachronismus“. Andere Stimmen aus der Wissenschaft äußerten sich mit ähnlichen Kommentaren in der Tagespresse und im Internet. Selbst der Präsidentensprecher ließ aus dem Kreml verlauten, dass es sich – unbeschadet aller gebotenen Wachsamkeit gegenüber Spionageversuchen des Auslands – bei der ministeriellen Anweisung wohl um eine Übertreibung handle. Der Vizepräsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, die nach dem Willen der Regierung neuerdings die Rolle einer strategischen Beratungsinstanz einnehmen soll, forderte das Ministerium auf, den für die Internationalisierung schädlichen Erlass zurückzunehmen.

 

Dies geschah bislang allerdings nicht. Stattdessen wurde der Erlass gleich nach seiner unbeabsichtigten Veröffentlichung vom Ministerium heruntergespielt als eine Empfehlung, die gar nichts Neues beinhalte. Seither ist unklar, ob der Text mit Ministerunterschrift zum offiziellen Regelwerk gehört oder nicht. Es gibt allerdings keine Anzeichen dafür, dass die russischen Hochschulen aufgrund des Erlasses ihren Umgang mit ausländischen Partnern geändert hätten. Lediglich die Föderale Universität Kasan hatte für einige Tage eine abgeschwächte Variante als eigenes Reglement auf ihrer Homepage veröffentlicht. Nach deutlich kritischer Resonanz in lokalen und überregionalen Medien verschwand aber auch diese Anordnung wieder aus den Verlautbarungen der Universität.
Es bleibt die Frage, was diese »Erlass-Affäre« über die akademische Internationalisierung in Russland aussagt. Etwa zeitgleich mit dem ungewollten Leak veröffentlichte das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung ein „Konzept der internationalen wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit“. Ähnlich wie in Internationalisierungsstrategien anderer Wissenschaftsnationen geht es auch hier darum, die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes durch eine möglichst weitreichende Einbindung in internationale Kooperationsstrukturen zu steigern. In diesem Kontext werden Offenheit und Reziprozität als Leitwerte benannt. Die „globale horizontale Vernetzung“ russischer und ausländischer Wissenschaftler wird als ein prioritäres Ziel beschrieben. Aussagekräftiger als Absichtserklärungen sind aber die tatsächlich finanzwirksamen Stellschrauben. Im Rahmen der russischen Exzellenzinitiative „5/100“ verausgabt die russische Regierung nicht nur zusätzliche Mittel für 21 Spitzenuniversitäten. Sie evaluiert dafür auch den Internationalisierungsstand der beteiligten Institutionen. Als Indikator gilt unter anderem die Anzahl von Publikationen, die russische Autoren in international anerkannten Fachzeitschriften pu­bliziert haben. Eine immer wichtigere Rolle in diesem Kontext spielt auch die internationale Ko-Autorschaft. Hier liegt nach Angaben des vom russischen Wissenschaftsministeriums gemeinsam mit der Moskauer Higher School of Economics herausgegebenen Jahrbuchs „Indikatoren der Wissenschaft“ (2019) Deutschland fast gleichauf mit dem Spitzenreiter USA als Kooperationsland für gemeinsam publizierte Forschungsergebnisse.

 

Anschluss an die internationale Spitzenforschung und eine Modernisierung des eigenen Wissenschaftssystems kann nur erreicht werden, wenn die wissenschaftsgeleitete Bottom-up-Kooperation der Forscher gelingt. Das zeigen alle Erfolge in dieser Richtung, über die die russische Regierung in zunehmend professionalisierter Weise Buch führen lässt. Ein staatlich verordneter Paradigmenwechsel erscheint deshalb wenig wahrscheinlich. Internationalisierung erzeugt aber nach wie vor auch politischen Widerspruch in Russland: War es in der Vergangenheit vor allem die Furcht vor einem Brain-Drain, ist es jetzt verstärkt die Besorgnis um einen möglichen Kontrollverlust, die diese Entwicklung begleitet.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.

Andreas Hoeschen
Andreas Hoeschen ist Leiter der DAAD-Außenstelle Moskau.
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