(Inter-)Kulturelle Bildung

Herzstück des deutsch-französischen Jugendaustauschs

Kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung. Das mag für den einen selbstverständlich, für den anderen befremdlich klingen. In Zeiten, in denen antieuropäische Gedanken Konjunktur haben und kulturelle Unterschiede von manchen als unvereinbar dargestellt werden, hat man zunehmend den Eindruck, dass nationale Grenzen in den Köpfen wieder aufgebaut werden und uns die dunklen Schatten der Vergangenheit wieder einholen, die wir doch längst hinter uns gebracht hatten. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts zogen Deutsche und Franzosen gegeneinander in den Krieg. Heute ist es unvorstellbar, dass sie mit Axt und Säbel aufeinander losgingen und den Nachbarn als „Erbfeind“ bezeichneten. Dass wir diesen Bewusstseinswechsel im deutsch-französischen Verhältnis erleben durften, ist ein Verdienst mutiger und weitsichtiger Politiker wie Konrad Adenauer oder Charles de Gaulle, die mit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) im Jahre 1963 den Aussöhnungsprozess zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder entscheidend geprägt haben. Gemäß dem Motto „Nie wieder Krieg, plus jamais ça“ haben visionäre Bürger den deutsch-französischen Jugendaustausch in den vergangenen 50 Jahren mit Leben gefüllt. Heute gilt das DFJW als Erfolgsgeschichte der bilateralen Zusammenarbeit. Als Triebfeder für den kulturellen und sprachlichen Austausch zwischen Jugendlichen in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern Europas und der Welt bringt das DFJW jährlich rund 200.000 junge Menschen im Rahmen von Austauschbegegnungen zusammen. Seit 1963 haben mehr als acht Millionen junge Deutsche und Franzosen an einer vom DFJW geförderten Begegnung teilgenommen.

 

Die engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politischen Rahmenbedingungen und Kulturmuster in Deutschland und Frankreich auch heute noch recht verschieden sind. Beide Systeme sind historisch gewachsen und im Bewusstsein der Menschen fest verankert. So ist Kultur- und Bildungspolitik in Frankreich etwas anderes als in Deutschland. Bedingt durch den zentralistischen Charakter Frankreichs hat Kulturpolitik dort einen stärkeren formellen Charakter, der eng mit dem Bildungswesen verbunden ist. Das französische Bildungssystem arbeitet strenger nach Vorgaben, als es im dezentral organisierten und föderalistisch geprägten Deutschland der Fall ist. Das deutsche Bildungswesen verfolgt einen partizipativen Lehr- und Lernansatz; kulturelle Bildung geht hierzulande von einem allgemeinen Zugang zur Kultur in allen Lebensbereichen aus, der sich mehr auf informelle, also außerschulische und -universitäre Aktivitäten bezieht.

 

Wer also das deutsch-französische Verhältnis besser verstehen will, braucht ein gegenseitiges Verständnis des Nachbarlandes. Im Kern der Arbeit des DFJW geht es darum, mithilfe von Sprache und Austausch Verständigung zu ermöglichen, Differenzen zu erkennen und zu akzeptieren, um so Europa zu einer konkret erlebten Realität zu machen. Interkulturelle Lernerfahrungen stehen also nicht nur im Mittelpunkt der Arbeit des DFJW, sie sind mehr als das: Interkulturelle Lernerfahrungen sind die raison d’être unserer internationalen Organisation.
Kulturelle und künstlerische Programme eignen sich besonders gut für deutsch-französische Begegnungen, weil sie den Austausch auch mit geringen Kenntnissen der Partnersprache ermöglichen. Das DFJW legt deshalb Wert darauf, dass alle geförderten Begegnungen eine im weiteren Sinne künstlerische und kulturelle Dimension haben. Im Rahmen der DFJW-Konferenz „Neue Perspektiven für den internationalen Jugendaustausch“ konnten vor Kurzem Multiplikatoren aus Deutschland, Frankreich und den Maghreb-Ländern am trilateralen Kunstprojekt YADRA teilhaben. Mit Theateraufführungen, Filmen und Ausstellungen thematisieren darin junge Kunst- und Kulturschaffende aus Deutschland, Frankreich und Algerien die Herausforderungen des euro-mediterranen Dialogs.

 

Ferner hat das DFJW in den letzten Jahren sein Repertoire an kulturellen Austauschformaten stetig erweitert und den Jugendaustausch in professionelle Kulturveranstaltungen integriert. So organisierte das DFJW gemeinsam mit der „Semaine de la Critique“ in Cannes einen Kurz- und Spielfilm-Workshop für Schüler mit heterogenem Bildungshintergrund, bei dem die jungen Teilnehmer Filmkritiken in der Partnersprache verfassten. Auch im berufsbildenden Bereich führt das DFJW Kulturprojekte durch, wie das Austauschprogramm für Nachwuchskräfte in der Buchhändler- und Verlegerbranche oder das Georg-Arthur-Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz.
Mit all diesen unterschiedlichen Initiativen und Projekten gibt das Jugendwerk jungen Menschen die Möglichkeit, einen Blick über den kulturellen und sprachlichen Tellerrand zu wagen und sich ein Netzwerk zum interkulturellen Austausch aufzubauen. Diejenigen, die eine deutsch-französische Austausch­erfahrung erleben, vergrößern aber vor allem ihren persönlichen Erfahrungsschatz und entwickeln ein hohes Maß an interkultureller Sensibilität auf internationaler und lokaler Ebene.
Mehr denn je bedarf es heute der Sprach- und Kulturmittler, die in der Welt des Nachbarn heimisch sind und die dabei helfen, Vorurteile und Pauschalideen abzubauen. Möglichst viele junge Menschen an interkulturellen Lernprozessen zu beteiligen, ihnen eine Stimme zu verleihen und grenzübergreifenden Austausch zu fördern – dies wird daher auch in Zukunft Herzstück der Arbeit des DFJW und seiner Partner im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens in Europa sein.

Béatrice Angrand
Béatrice Angrand ist Generalsekretärin des Deutsch-Französisches Jugendwerkes (DFJW)
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