Enzio Wetzel und Theresa Brüheim - 27. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Auswärtige Kultur- & Bildungspolitik (AKBP)

"Deutschland und Japan haben ähnliche Mantras des Fleißes"


Die deutsch-japanischen Beziehungen an der Villa Kamogawa

Direkt am Fluss Kamo in der früheren japanischen Hauptstadt Kyoto auf der Insel Honshū befindet sich die Villa Kamogawa. Diese Einrichtung des Goethe-Instituts bietet Künstlern und Kulturschaffenden mit Wohnsitz in Deutschland eine dreimonatige Residenz in „Far East“ und damit verbunden einen Perspektivwechsel auf heimische europäische Debatten. Seit einem knappen halben Jahr leitet Enzio Wetzel die Villa Kamogawa. Theresa Brüheim spricht mit ihm über die Bedeutung des Residenzprogrammes für die deutsch-japanischen Beziehungen.

 

Theresa Brüheim: 2011 wurde die Villa Kamogawa anlässlich des 150. Jubiläums der deutsch-japanischen Beziehungen eröffnet. Was macht diese aus?
Enzio Wetzel: Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, die man Japanern und Deutschen nachsagt: Sie sind sehr eifrig bei der Arbeit, kennen sich technisch gut aus, erfinden viel und gern. Auch wenn wir Deutschen mittlerweile auf verlorenem Posten stehen, was Erfindungen anbelangt. Nichtsdestotrotz wird diese konstruierte Ähnlichkeit von beiden Seiten weiterhin gepflegt. Man hat sozusagen ähnliche Mantras des Fleißes und der Arbeitsorientierung.
Es gibt darüber hinaus viele Prozesse, die die postindustriellen Gesellschaften in Westeuropa und Japan gleichermaßen durchlaufen und denen sie begegnen müssen – wie z. B. der Überfluss, eine starke Zunahme von Nationalismus, die alternde Gesellschaft. Das Mantra der Überalterung ist in Japan noch viel stärker präsent als in Europa. Wer zahlt in die Rentenkasse? Wohin mit den ganzen alten Leuten? Sterben Japanerinnen und Japaner irgendwann aus? Allerdings gibt es hier viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Man versucht, die Herausforderungen technisch anzugehen und zu lösen, z. B. Roboter für die Pflege einzusetzen. Historisch reicht die deutsch-japanische Verbindung weit zurück. Die erste moderne Verfassung Japans hat die preußische Verfassung zum Vorbild. Zur Zeit des Dritten Reiches pflegte man eine Art Waffenbrüderschaft. Aus politischen und strategischen Gründen wollte man Verstärkung im Fernen Osten haben, um die „Feinde“ in der Mitte in die Zange zu nehmen. Beide verbindet auch die totale Niederlage, und beiden Ländern gelang ein rascher Wiederaufbau nach dem Krieg, gefolgt von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung. Jetzt finden sich beide wieder in einem Tal der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ermüdung.

 

Welchen konkreten Beitrag leistet die Villa Kamogawa für die deutsch-japanischen Beziehungen?
Die Villa Kamogawa ist eine Art Sprungbrett oder erst einmal eine Plattform für Künstlerinnen und Künstler mit Wohnsitz in Deutschland, die Japan tiefer kennenlernen wollen, als es möglich wäre, wenn sie z. B. zu einem Festival eingeladen wären oder eine Koproduktion mit einem japanischen Partner realisieren würden. Man kann völlig andere Perspektiven erfahren und für drei Monate ein ziemlich anderes Setting erleben. Wir bieten Künstlerinnen, Kulturtheoretikern, Philosophinnen, Ethnologen und anderen aus Deutschland ein tiefes Atemholen ohne Produktionsdruck. Dadurch
dass sich diese Plattform in Japan, in Kyoto befindet, sind Irritationen, Überraschungen, Herausforderungen zu erwarten – für beide Seiten. Die Villa lädt die – japanischen – Nachbarn, Cafébesucherinnen, Studierenden und Kulturschaffenden ein, aus dem japanisch-traditionellen Kyoto mit seinen über tausend Tempeln und Weltkulturerbestätten an den Hängen der Berge herauszukommen und zeitgenössische Kunst, Gedanken und Verhaltensweisen aus Deutschland und Europa zu erleben – und zwar nicht in Form einer Ausstellung, sondern weil sie live auf die Stipendiatinnen und Stipendiaten treffen. Die Villa Kamogawa ist ein Kulminationspunkt, an dem sich Europa und Japan begegnen, wo aber ebenso auch alltägliche Unterschiede sichtbar werden. Unter der Oberfläche des künstlerischen wie auch des wissenschaftlichen Austauschs, der jeder für sich gewissen internationalen Regeln oder Usancen folgt, liegen erhebliche Unterschiede in der Arbeitsweise und dem Umgang miteinander. So ist es immer auch eine Art Selbstvergewisserung und Selbstinfragestellung des europäischen Blicks. Z. B. untersucht gerade Luise Donschen botanische Gärten in Kyoto. Sie schaut, wie japanische Gärtner einen „europäischen Garten“ auffassen. Sie trifft sozusagen auf das Europabild in Japan. Der berühmte Murin-an in Kyoto – „a Japanese garden masterpiece“ – wurde von einem japanischen Politiker angelegt, nachdem er in Berlin und London europäische Gärten zu schätzen gelernt hatte.

 

Die Villa Kamogawa fördert jedes Jahr bis zu zwölf Stipendiatinnen und Stipendiaten. Wie viele Bewerbungen gehen pro Runde ein?
Es gehen pro Runde ca. 400 Bewerbungen ein. Wir haben drei Zeiträume, die jeweils drei Monate umfassen. Dazwischen liegen eine längere Sommerpause und eine kürzere Winterpause. In der Villa Kamogawa verfügen wir über vier Apartments für Künstlerinnen und Künstler. Im kommenden Jahr wollen wir bis zu neun Stipendien vergeben und ein Apartment für Kooperationen – in den Künsten und den Wissenschaften – freihalten, für längerfristige Vorhaben oder auch für Besuche an der Villa, die im Zusammenhang mit unseren Projekten stehen. Auch Partnerbewerbungen sind möglich, wenn zwei gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Wir sind noch nicht recht darauf vorbereitet, aber wir wollen, dass in Zukunft auch eine Künstlerin oder ein Künstler mit einem kleinen Kind das Stipendium wahrnehmen kann.

 

Bewerben kann man sich in den Rubriken Architektur, Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Design, Literatur, Musik, Film und Kulturtheorie/Kulturkritik. Gibt es eine Rubrik, die besonders stark nachgefragt wird?
Ungefähr die Hälfte aller Bewerberinnen und Bewerber kommt aus der Bildenden Kunst. Kyoto hat da auch überwältigend viel zu bieten: Handwerksbetriebe in der 14. Generation, besondere Materialien und Arbeitsweisen und eine andere Auffassung vom öffentlichen Raum, vom Wohnen und Zusammenleben. Im nächsten Jahr wollen wir Kulturtheorie stärker in den Vordergrund rücken, weil auch die Hochschulen an einer internationalen Öffnung interessiert sind. Überhaupt wollen wir japanische Stimmen in die Jury holen, damit die Künstlerinnen oder Kulturtheoretiker nicht ganz „vom Himmel herab“ in Japan landen, sondern mit ihren Ideen und Vorhaben schon auf engagierte, erwartungsvolle Partner treffen.

Zur Eröffnung der Villa Kamogawa betonte der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, den Förderschwerpunkt Tanz und Choreografie im Rahmen der Darstellenden Künste. Ist das heute noch so?
Auf jeden Fall. Unter den Stipendia­tinnen und Stipendiaten sind fast immer auch Tänzer und Choreografinnen. Wobei sich auch hier die Interessen erweitern. Mitte dieses Jahres wird die Tänzerin und Choreografin Lisa Gómez hier zum Verhältnis von Körper und Luft arbeiten, sie will dabei auch eine ganz spezifische Art der zeitgenössischen japanischen Bewegungserziehung einbeziehen, das Seitai-ho.

 

Wie wählen Sie die Stipendiatinnen und die Stipendiaten aus, die zu Ihnen kommen?
Nach der Bewerbungsrunde tritt eine fünf- bis siebenköpfige Jury zusammen. Eine Stimme hat das Goethe-Institut, ansonsten sind es Vertreter aus allen Genres. Im nächsten Jahr wollen wir das System justieren und verstärkt mit Partnerinstitutionen und Kuratoren arbeiten. Künstlerinnen und Künstler sollen auch gezielt eingeladen werden, von denen wir glauben, dass ein Besuch oder eine Residenz von besonderem Interesse für japanspezifische Themen oder hiesige Festivals sein könnten.

 

Es klingt bereits an, der Austausch mit der japanischen Kulturszene besteht. Wie intensiv ist dieser?
Die Villa Kamogawa ist gut erreichbar, zugleich etwas abgelegen, zwei Kilometer vom Zentrum, von den großen Shopping Malls. Das ist eine gute Ausgangslage zum ruhigen Arbeiten und zugleich zum lebendigen Austausch. In unmittelbarer Nachbarschaft, auch entlang des Kamogawa-Flusses, liegen ein Baumarkt, der kaiserliche Garten, eine Hochzeitskirche japanischen Stils und eben unsere Villa mit dem Charme eines deutschen Cafés mit Dallmeier und einem – wieder – japanischen Garten. Eine sehr lebendige urbane Kulturszene fängt südlich vom Bahnhof an, sich zu entfalten, vier Kilometer von hier. Früher, bis vor ca. 30 Jahren, war das eine zwielichtige Gegend, in der man sich abends vergnügte. Wenn wir es schaffen, dass Leute von dort auch mal flussaufwärts bis in die Villa kommen, um auf die Stipendiaten zu treffen, im Café Müller, am Fluss, im Baumarkt oder bei einem gemeinsamen „Open Studio“, dann haben wir viel erreicht.

 

Was planen Sie für die Villa Kamogawa?
Wir überlegen gerade, wie wir Themen wie Umweltverschmutzung oder Dekolonialisierung, Postindustrialisierungsgesellschaften und Zukunft von Arbeit und Freizeit nicht nur im bilateralen deutsch-japanischen Kontext verhandeln können. Unser Ziel ist, an der Diskussion zwischen globalem Süden und Norden auch von Japan aus teilzunehmen. Japan hat z. B. ein starkes Interesse in Südostasien und leistet dort Entwicklungshilfe. Solches Engagement gibt es – anders gelagert – in Deutschland auch. Was bedeutet Entwicklungszusammenarbeit heute? Ist das nicht wieder die Kolonialisierung, nur in einem neuen Gewand? Das wäre eine globale Fragestellung. Wir werden Bewohner von Residenzen im globalen Süden kontaktieren und zu Treffen, Veranstaltungen – offline und online – einladen. Außerdem beschäftigt uns die Frage, wie man Leute, die, wie aktuell die Passagiere der Diamond Princess im Hafen von Yokohama, in einer Art von erzwungener Residenz leben, kontaktieren und etwas mit ihnen unternehmen kann.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.


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