Unterrepräsentierte Stimmen hörbar machen

Die Kolonialismus-Debatte hat die Arbeitsweise des Goethe-Instituts verändert

Die Pointe bringt Bénédicte Savoy ganz zum Schluss: Dakar, Senegal, im März 2019. Im Konferenzsaal des mit Geldern aus China neu erbauten „Musée des civilisations noires“ berichtet Savoy von ihren jüngsten Forschungen zur Geschichte der Restitution von Kulturgütern aus deutschen Museen nach Afrika. Die damalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Hildegard Hamm-Brücher, habe bereits Anfang der 1980er Jahre in der Süddeutschen Zeitung die ersten Rückgaben der Bundesrepublik angekündigt. Diese Planung sei dann mit dem Regierungswechsel 1982 auf Eis gelegt und später auch nicht weiterverfolgt worden. Den Anstoß für Bénédicte Savoys Recherchen hatte ein Leserbrief gegeben, der sich auf Hamm-Brücher bezog: Unter der Überschrift „Kulturgüter zurück in den Urwald?“ hatte der Verfasser die Rückkehr der Kunstgegenstände deutlich abgelehnt: Begründet hatte er dies mit seiner Sorge um die Sicherheit der Objekte und dem Hinweis, dass es von den „Völkerschaften der Dritten Welt“ deutlich weniger Ausstellungsstücke in europäischen Museen gebe als aus anderen Weltregionen. Der Beruf des Leserbriefschreibers vom Anfang der 1980er Jahre: Leiter eines Goethe-Instituts in Afrika.

 

Seitdem ist viel passiert. Doch die intensive Auseinandersetzung um den deutschen Kolonialismus hat erst in den letzten Jahren so richtig an Fahrt aufgenommen. Sie entzündete sich in Deutschland insbesondere an der Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, afrikanische Kulturgüter aus französischen Museen zurückzugeben, und an den vielfältigen Diskussionen um die zukünftige Ausrichtung des Humboldt Forums. In zahlreichen Konferenzen standen die Rolle Deutschlands als Kolonialmacht und Fragen der Restitution im Mittelpunkt. Gebeine afrikanischer Ahnen, aber auch erste Kulturgüter wurden zurückgegeben. Der Prozess der Restitution hat begonnen. Die Aufarbeitung des Kolonialismus fand gleich an drei Stellen prominent Eingang in den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien.

 

Auch das Goethe-Institut hat sich in seiner programmatischen Kulturarbeit und in seinem Selbstbild in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und verändert. Stand in den 1950er und 1960er Jahren insbesondere die Präsentation des kulturellen Lebens der jungen demokratischen Bundesrepublik im Ausland im Mittelpunkt – auch mit dem Ziel, nach einem schrecklichen Krieg und dem Holocaust wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden –, wuchs seit den 1970er Jahren zunehmend das Verständnis einer partnerschaftlichen Kulturkooperation. Diese konzeptionell auf Deutschland bezogene und auf bilateraler oder europäischer Zusammenarbeit beruhende Programmarbeit ist dem Dialog verpflichtet und heute stark von Begriffen wie Kooperation und Koproduktion geprägt. Gerade im letzten Jahrzehnt hat sie sich zudem um einen multiperspektivischen, multilateralen und globalen Ansatz erweitert. Im Mittelpunkt dabei immer die Frage, was den größten Nutzen für die Kulturlandschaft nicht nur vor Ort, sondern auch über Länder und Kontinente hinweg bringen und was dabei der spezifisch deutsche Beitrag sein könnte.

 

So entstanden grenzüberschreitende Plattformen und Netzwerke. Beispielsweise die vom Goethe-Institut und der Siemens Stiftung begründete Plattform „Music in Africa“. Sie vernetzt die Musikszenen auf dem afrikanischen Kontinent und wird inzwischen von einer eigenständigen afrikanischen Stiftung betrieben. Deutschland wirkt hier lediglich als Initiator und Unterstützer. Oder – auf Europa bezogen – „Freiraum“, ein Netzwerk aus über 50 europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Angesichts wachsender national-populistischer Tendenzen in der EU stellt es in zahlreichen Projekten den Wert der Freiheit in den Mittelpunkt.

 

Gerade auch beim Umgang mit dem weltweit geführten Diskurs über koloniale Fragen hat sich die Arbeitsweise des Goethe-Instituts verändert. Bei den aktuellen Diskussionen in Europa haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, aktiv die Stimmen aus den betroffenen Ländern hörbar zu machen, die zumindest am Anfang der Debatten oft unterrepräsentiert schienen. Hilfreich ist da die Nähe der Goethe-Institute vor Ort und die enge Verbundenheit mit den lokalen Partnern. Die Gäste bei der Konferenz „Vertagtes Erbe“ Ende 2018 in Berlin kamen aus afrikanischen Ländern, aus Australien, China oder Samoa. Das Festival „Latitude“ ist ein weiteres Beispiel für diesen Ansatz: Es verhandelte jüngst – aufgrund der Corona-krise rein digital – die Frage, wie koloniale Strukturen bis heute weiterwirken. Gerade die Tatsache, dass dort Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Europa sich zu Themen wie Identität, Rassismus oder Erinnerungskultur auseinandersetzten, während in den deutschen Städten gegen Rassismus demonstriert und deutsche Medien dafür kritisiert wurden, dass dieses Thema nur von Weißen diskutiert würde, zeigt eine wichtige politische Dimension auf: Lokale und globale Diskurse über gesellschaftliche Fragen sind heute nicht mehr voneinander zu trennen. Wir müssen sie in Zukunft noch aktiver miteinander in Beziehung setzen und gemeinsam verhandeln.

 

In der Arbeit der Goethe-Institute vor Ort geht es darum, die Zeit der Kolonisierung und den Dekolonisierungsprozess offen zu diskutieren und damit auch die dunklen Zeiten der deutschen Kolonialzeit zum Thema zu machen. Hat man sich vor wenigen Jahren zunächst noch schwer damit getan – so eine kritische Stimme bei der Konferenz „New Ethics for Museums in Transitions“ im März dieses Jahres in Daressalam – eine Theaterproduktion zum Maji-Maji-Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Tansania zu unterstützen, werden diese Themen heute vom Goethe-Institut explizit in Konferenzen oder Kunstprojekten behandelt. Das tut bisweilen weh wie jeder ernsthafte Prozess von Aufarbeitung. Es ist jedoch eine grundlegende menschliche Erfahrung, dass das gemeinsame Erinnern, das für beide Seiten auf unterschiedliche Weise schmerzhaft und konfliktträchtig sein kann, eine notwendige Voraussetzung ist, um gemeinsam in die Zukunft zu gehen.

 

 

Auch neue Methoden des Kulturaustausches werden erprobt: Zunehmend wird beispielsweise bei der Arbeit in Afrika – dies gilt analog auch in anderen Teilen der Welt – die konzeptionelle Ausarbeitung von Projekten vollständig in die Hände afrikanischer Kuratorinnen und Kuratoren gelegt. Das Goethe-Institut ist Ermöglicher und neutrale Plattform, tritt als Macher und Gestalter jedoch in den Hintergrund: Wie beim mehrjährigen Projekt „Museumsgespräche“ auf dem afrikanischen Kontinent, bei dem Museumsfachleute aus zahlreichen afrikanischen Ländern die Herausforderungen und Zukunftsvisionen afrikanischer Museen diskutierten. Oder wie bei der Konferenz „Burden of Memory“ in Kamerun Ende vergangenen Jahres. Dort entschieden die drei Kuratorinnen aus Kamerun, Südafrika und Kenia, dass Kulturschaffende aus den ehemaligen deutschen Kolonien ihre unterschiedlichen Erinnerungsansätze zunächst einmal nur unter sich diskutieren, bevor man sich mit den europäischen Partnern auseinandersetzt.

 

Nach einem ähnlichen Ansatz konzipiert ist das Folgeprojekt der Museumsgespräche „Museum Futures Africa“. Es geht darum, von der Diskussion und Analyse in konkretes Handeln zu kommen. Afrikanische Museen werden dort in einem ständigen Austausch untereinander neue Konzepte eines Museums der Zukunft entwickeln und umsetzen, die insbesondere auf den Erfahrungen vor Ort basieren sollen. Herkömmliches „Capacity Building“, wie es das Goethe-Institut mit Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen für Bibliotheken, Museen und andere Kulturakteure mit Workshops, Praktika oder einem internationalen Kulturmanagement-Studiengang mit der Leuphana-Universität betreibt, bleibt wichtig. Doch gerade das gemeinsame und gegenseitige Lernen voneinander, wie es bei „Museum Futures Africa“ geplant ist, geht in seinem stetigen Austausch und Hinterfragen von Modellen weit darüber hinaus: Es weist in die Zukunft, weil es Wissen nicht als Einbahnstraße, sondern als multiperspektivisches Lernen im Austausch aller Akteure begreift. Besonders nachhaltig sind solche neuen Konzepte dann, wenn sie nicht von außen herangetragen werden, sondern sich aus den tatsächlichen Verhältnissen im Land erschließen. Die Präsenz des Goethe-Instituts vor Ort als Begleiter von nachhaltigen Prozessen erweist sich hier als Stärke des Netzwerks der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Dem Gedanken des gemeinsamen Lernens verpflichtet ist auch die SAWA-Museumsakademie. Dort bilden die Museumsverwaltung Sharjah, die Staatlichen Museen Berlin, die Hochschule für Technik und Wirtschaft und das Goethe-Institut angehende Museums-kräfte aus der arabischen Welt und aus Deutschland nach dem Tandem-Prinzip mit Digital- und Präsenzangeboten dies- und jenseits des Mittelmeeres fort. Der Name ist Programm: „Sawa“ heißt auf Deutsch „Gemeinsam“.

 

Sich selbst zu hinterfragen ist eine wichtige Grundlage, um diese Methoden im Kulturaustausch weiterzuentwickeln. So hat das Goethe-Institut Johannesburg jüngst im Rahmen des Projekts „Power Talks“ seine Rolle öffentlich zur Diskussion gestellt. Dafür gab es viel Lob, aber auch fundamentale Kritik: Kulturaustausch sei eine Form, das schlechte Gewissen zu beruhigen und sich von Schuld reinzuwaschen. Kulturaustausch in unserem Sinne funktioniere nur, da wir die wirtschaftlichen Mittel besäßen, sinnvoller aber seien Entschädigung und Reparation für das in der Kolonialzeit verloren gegangene Erbe. Hier wurden Nuancen zwischen beiden Positionen deutlich und machten auch klar, dass eine beständige Neuverhandlung nötig ist, dass die kulturelle Emanzipation in Südafrika wie in anderen Ländern der Region ein Prozess ist, der uns lange begleiten wird und für beide Seiten viel Gesprächspotenzial birgt.

 

Sich mit der Welt auf diese Weise zu verbinden, erfordert eine neue Lernbereitschaft und eine Eigenschaft, die man auch mit dem altmodischen Wort „Demut“ bezeichnen könnte: die Fähigkeit zuzuhören, sich in die Position des anderen hineinzuversetzen und sich selbst in Frage stellen zu können. „Eine neue Ethik des Zuhörens“ hat auch die deutsch-indische Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan beim Latitude-Festival gefordert. Es erfordert gleichzeitig eine Geisteshaltung, kulturelle Differenz und Diversität als Bereicherung anzusehen, aus der sich in der Reibung und der Begegnung neue gemeinsame Perspektiven entwickeln können. All dies schafft die Grundlage, dass die eigene Position im gegenseitigen Austausch und offener Diskussion nicht nur wahrgenommen, sondern akzeptiert wird, dass gemeinsames Lernen, von dem beide Seiten profitieren, erst ermöglicht wird, und dass Vertrauen, das die Basis echter Beziehungen ist, erst entstehen und reifen kann. Dies erfordert einen Lernprozess, dem sich Institutionen wie das Goethe-Institut, die in globalen Zusammenhängen arbeiten, seit vielen Jahren aussetzen und aussetzen müssen. Diese stetige Erneuerung ist nicht frei von heiklen Momenten, Fehlgängen und unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Schließlich greift sie nicht nur in die institutionelle Kultur ein, sondern stellt auch hohe Anforderungen an die Vertreterinnen und Vertreter dieser Form des Kulturaustausches.

 

Auch für die deutsche Gesellschaft, die global eingebettet und zugleich nach innen divers ist, gibt es zu einem solchen Lernprozess keine Alternative. Dies zeigt gerade die aktuelle Rassismus-Debatte: Ausgelöst durch ein Ereignis in den USA, intensiviert sie die längst überfällige gesellschaftliche Auseinandersetzung um rassistisch motivierte Gewalt gegen deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger wie zuletzt in Hanau und wirft die Frage von struktureller Diskriminierung der People of Colour in unserer eigenen Gesellschaft auf. Diese Diskussion ist eminent wichtig für die Zukunft unserer Demokratie. Denn diese basiert auf einem pluralistischen Aushandlungsprozess unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Positionen, der nur dann funktionieren kann, wenn die Stimmen aller dieser Akteure gleichwertig sind und gehört werden. Gerade in einem Einwanderungsland wie Deutschland, das auch in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein wird, um seinen wirtschaftlichen Wohlstand und seine sozialen Errungenschaften zu erhalten, müssen sich Bürgerinnen und Bürger ganz unterschiedlicher Herkunft für eine gemeinsame Zukunft zusammenfinden. Sie müssen dabei das Recht und die Möglichkeit haben, ihre Interessen und Ansprüche gleichberechtigt zu äußern und offen und empathisch gehört zu werden. Auch dies erfordert einen Lernprozess des Zuhörens, des sich in den anderen Hineinversetzens, des Sich-selbst-in-Frage-Stellens. Deshalb geht es heute auch darum, Lerngemeinschafen der Welt zu erneuern und gemeinsames kulturelles Lernen voranzubringen. Das Goethe-Institut kann mit seiner Expertise aus dem globalen Kulturaustausch und vor dem Hintergrund der eigenen historischen Lernprozesse seinen Beitrag dazu leisten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Johannes Ebert
Johannes Ebert ist Generalsekretär des Goethe-Instituts.
Vorheriger ArtikelMissverstehen als Fortschritt
Nächster ArtikelPartikulares und universelles Gedächtnis