Namibia wartet

Die deutsche Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama muss offiziell werden

Deutsche Museumsleute sagen gelegentlich: „Unsere afrikanischen Kollegen sind weniger an Rückgabe interessiert als an Transparenz über die Bestände hier und an offenem Zugang.“ Halten Sie das für vorgeschobene Argumente, um Sammlungen behalten zu können?
Da möchte ich die Gegenfrage stellen: Was bedeutet Zugang? Wir würden sehr gern die Museen und Sammlungen besuchen. Aber: Welche realistische Möglichkeit haben normale Afrikaner, hier Objekte ihrer kulturellen Tradition zu sehen? Sie müssen Schlange stehen für ein Schengen-Visum bei der deutschen Botschaft, sie müssen nachweisen, dass sie genügend Geld für Hotel und Behandlung im Krankheitsfall haben. Ein normaler Mensch aus Afrika hat null Zugang zu Objekten in deutschen Museen, die für ihn kulturell oder ethnologisch von Bedeutung sind. Wir sollten für Bedingungen sorgen, die tatsächlich Zugang ermöglichen. Mauritius und die Seychellen sind Länder, die von der Schengen-Visumsbefreiung profitieren, weil Frankreich ihren Antrag unterstützt hat. Was hat Deutschland für namibische Bürger inklusive seiner Deutschstämmigen gemacht? Eigentlich nichts, obwohl Namibia kein Flüchtlingsland ist. Ohne Restitution wird es für die meisten Afrikaner keinen Zugang zu Museumssammlungen geben. Vielleicht lässt sich aus dem Umgang mit Raubkunst aus jüdischem Besitz lernen, wie ein solcher Prozess organisiert werden kann.

 

Das Eckpunkte-Papier von Bund, Ländern und Kommunen entspricht im Hinblick auf ein Gesamtkonzept der Stellungnahme des Deutschen Kulturrates – dort wird allerdings gefordert, die Strukturen des Welthandels müssten in die Diskussion einbezogen werden. Wie bewerten Sie diese Position?
Die Auffassung, dass die Wirtschaft der Politik folge, ist falsch. Adolf Lüderitz aus Bremen war kein Politiker, sondern ein Kaufmann. Er ging aus Geschäftsgründen nach Afrika. Die Politik, die kolonialen Strukturen, folgten dem. Wir sollten heute die Probleme nicht voneinander trennen. Wir werden keine Lösungen finden, wenn wir Politik und Wirtschaft in verschiedenen „Körben“ behandeln. Ich spreche von Gerechtigkeit – das meint eine wiederherstellende Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann nicht nur „gemacht“ werden, man muss sehen können, wie sie erreicht wurde. Schauen wir uns an, wie Europa heute mit Afrika spricht: Man hat nicht den Eindruck, dass es da um Herstellung einer gerechten Balance geht. Das ist leider ein Grundproblem vieler Initiativen: Wenn ein „Marshallplan für Afrika“ diskutiert wird, so sind es Lösungsvorschläge, die zumeist ohne afrikanische Beteiligung konzipiert wurden.

 

Die zehntausendfache Tötung von Herero und Nama wurde letztes Jahr von Staatsministerin Michelle Müntefering in einer persönlichen Erklärung als Genozid bezeichnet – aber noch gibt es keine offizielle deutsche Anerkennung dieses Völkermordes. Offenbar aus Furcht vor Entschädigungszahlungen, die nach einer Anerkennung zu leisten wären. Wie kann eine Lösung aussehen?
Ich verstehe die deutsche Sorge vor der rechtlichen Dimension des Genozids. Aber es gibt eine historische und moralische Verantwortung. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat zu einem frühen Zeitpunkt sinngemäß erklärt: „Wenn wir das Geschehen in jener Zeit messen an dem, was wir heute unter ‚Genozid‘ verstehen, dann gibt es keinen Zweifel, dass es ein Genozid war.“

 

Ich sehe die deutsche Bereitschaft, das zu akzeptieren – aber es muss offiziell werden. Namibia hat eine lange Tradition der Versöhnung. Wir haben lange gegen die deutsche Kolonialherrschaft gekämpft und dann gegen die südafrikanische Besatzung. Versöhnung auf der Grundlage von Respekt – das vermissen wir von Deutschland.

 

Woran erkennt man nach 29 Jahren, dass es besondere Beziehungen zwischen Deutschland und seiner Siedlerkolonie gibt, wenn die einzige Bundestagsfreundschaftsgruppe mit einem afrikanischen Land die mit Ägypten ist? Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia dürfen nicht auf eine entwicklungspolitische Diskussion reduziert werden. Namibia ist überall in Afrika und international ein respektierter politischer Partner, nur nicht in Deutschland – und das, weil man gewisse Themen vermeiden möchte. Wir können diese Diskussion aber nicht vermeiden.

 

Niemand kann Leben, das vernichtet wurde, zurückgeben. Aber es gibt eine Verantwortung für die Folgen dieser kolonialmilitärischen Aktionen, die Vernichtung großer Teile der Herero- und Nama-Völker. Damit wurden Zukunfts- und Entwicklungschancen vernichtet. Wie viele Herero und Nama gäbe es ohne den Völkermord? Was könnten sie leisten? Die Verantwortung liegt darin, die Existenzbedingungen der lebenden Angehörigen dieser Völker zu unterstützen und zu fördern.

 

Die Geste der Entschuldigung sollte mit einer Geste dessen einhergehen, was auf Deutsch „Wiedergutmachung“ heißt. Das ist Inhalt von Gesprächen zwischen unseren Regierungen. Deutschland und Namibia haben ihre Vorstellungen genannt, nun geht es darum, die Lücke zwischen diesen Vorstellungen zu schließen. Das Kriterium ist nicht in erster Linie eine Geldsumme, sondern ein richtiges Engagement für einen langfristigen Wiederaufbau. Denken Sie an die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und das, was anschließend von den Amerikanern initiiert wurde. Die Mittel des Marshallplans wurden großteils für den Wiederaufbau Europas eingesetzt.

 

Sie stellen sich eine Kombination aus Entschuldigung für den Genozid und einem deutschen Marshallplan für Namibia vor?
Ganz genau. Das könnte jeden Menschen in Namibia und Deutschland überzeugen, dass beide Nationen eine Seite im Buch der Geschichte gewendet haben. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können als Lebende für eine lang andauernde gerechte und friedliche Zukunft sorgen. Ich denke, dass ein deutscher Marshallplan für Namibia dazu führen könnte, dass mögliche zukünftige Klagen gegenstandslos werden.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.

Andreas Guibeb und Hans Jessen
Andreas Guibeb ist namibischer Botschafter in Deutschland. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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