Die ersten „Nichtregierungsorganisationen“

Ein anderer Blick auf die Geschichte der evangelischen Mission

 

Selbstverständlich waren der europäische Blick und das koloniale Paradigma für die meisten evangelischen Missionare bestimmend. Dies war der zeitgeistliche Rahmen, den die wenigsten von ihnen durchbrechen konnten. Doch sollte man auch bedenken, wie weit sie diesen Rahmen ausdehnten und manchmal durchlöcherten. Dazu muss man sich bewusst machen, welche Opfer sie brachten. Allein die Wegstrecken, die sie zurücklegten, um zu abgelegen lebenden Menschen zu gelangen, sind zum Staunen oder Erschrecken. Und dann erst die Lebensumstände, die sie bereitwillig ertrugen, um mit denen zu leben, für deren seelisches und auch körperliches Wohl sie sich verantwortlich fühlten! Diese pietistischen Missionare waren eben auch Märtyrer, die mit ihrer ganzen Existenz den Glauben bezeugten, und auf einige müssen sie eben auch glaubwürdig gewirkt haben.

 

In ihre Arbeit, auch das war damals ungewöhnlich, bezogen sie zum einen Frauen, vor allem ihre Ehefrauen, ein. Die evangelische Mission war immer auch eine Frauensache. Zum anderen beteiligten sie Einheimische, zum Teil schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Missionierten wurden so selbst zu Missionaren und Mitakteuren. Was für die Herrnhuter von Beginn an eine echte Überzeugung war, wurde für größere Missionswerke später zu einer schlichten Notwendigkeit – besonders im Ersten Weltkrieg, als das Deutsche Reich seine Kolonien verlor: Da konnte die Arbeit nur weitergehen, indem die Verantwortung an Ortskräfte übertragen wurde.

 

Natürlich ist es nicht leicht, heute eine Bilanz zu ziehen. Wer es versucht, muss häufig „auch“ sagen. Da ist einerseits die religiös-kulturelle Überwältigung. Andererseits: Schulen brachten Bildung, Krankenstationen förderten Gesundheit, Betriebe und Genossenschaften gaben Arbeit zu fairen Bedingungen. Auch darf man nicht vergessen, dass einige Gräuel der Kolonialgeschichte von Missionaren bezeugt wurden. Sie lebten ja bei den Menschen, denen Gewalt angetan wurde, sie verfügten über die publizistischen Mittel, davon in der Heimat zu berichten. Aber offenkundig waren auch die Missionsgesellschaften vielfach in den staatlichen und wirtschaftlichen Kolonialismus verstrickt, manchmal aus ganz praktischen Gründen: Sie waren auf die Sicherheit angewiesen, die die „Schutztruppen“ garantierten, sie nutzten die Infrastruktur, die die Kolonialverwaltungen organisierten, und sie brauchten Geld von Spendern zu Hause. So machten sie sich abhängig, wurden Teil des kolonialen Systems, ließen sich korrumpieren.

 

Zu einer Bilanz gehören auch diese drei ungewollten Nebeneffekte. Erstens initiierten die Missionswerke einen vielfältigen Kulturtransfer, der nicht nur eine Richtung kannte. Sie brachten europäische Zivilisation in fremde Länder, importierten aber zugleich aus diesen kulturelle Entdeckungen nach Deutschland. Zweitens blieben die Menschen in Übersee keine Glaubensempfänger, sondern entfalteten eine staunenswerte Eigenständigkeit. Sie nahmen den neuen Glauben an, indem sie ihn verwandelten. Deshalb führte die evangelische Mission nicht zu einer Europäisierung der missionierten Weltgegenden, sondern zu einer Globalisierung und Pluralisierung des Christentums. Drittens zeigte diese religiöse Emanzipation auch politische Folgen. Wie Nelson Mandela einmal bemerkte, wäre der antikoloniale Kampf ohne die Missionsschulen nicht möglich gewesen. Auch die Anti-Apartheitsbewegung verdankte den Netzwerken der Missionsgesellschaften viel.

 

So ist die Geschichte der evangelischen Mission eine mit einem vielfachen „Auch“. Dieses kann man am besten durchbuchstabieren, wenn man die Parallelen zwischen den Missionsgesellschaften damals und den NGOs heute betrachtet: die Anfänge in kleinsten Gruppen hochengagierter Idealisten, das Arbeiten unabhängig von oder gegen etablierte Institutionen, die Organisation in Netzwerken, das kreative Fundraising, der Einsatz neuester Medien, das Nonkonformistische, das Engagement für Kulturtransfer, Entwicklungshilfe, Bildung, Gesundheit, Empowerment und Fair Trade. Aber auch: der extreme idealistische Anspruch, die damit verbundene Übergriffigkeit, der Glaube, selbst stets auf der Seite des Guten zu stehen, die Moralpolitik, die Unwilligkeit, sich einbinden zu lassen, die moralische Selbst- und Fremdüberforderung, schließlich die bewusst-unbewusste Komplizenschaft mit dem politisch-wirtschaftlichen System der Herkunftsgesellschaft. So ist die Missionsgeschichte auch ein ferner Spiegel, vor dem heutige NGOs über sich selbst nachdenken können.

 

Ein Urteil über die evangelische Mission lässt sich nicht bilden, ohne die Stimmen der anderen zu hören. Die Betrachtung der evangelischen Missionsgeschichte wäre bloß ein deutsches Selbstgespräch, wenn afrikanische oder asiatische Perspektiven nicht einbezogen würden. Für die Mission muss gelten, was bei postkolonialen Debatten inzwischen Standard ist: Es ist eine gemeinsame Geschichte, die gemeinsam betrachtet werden muss. Das kann zu scharfen Konfrontationen führen. Es können sich aber auch Überraschungen ergeben, wenn die eher missionskritischen Deutschen erleben, wie wichtig einigen Gesprächspartnern „ihre“ Missionsgeschichte ist. Das führt übrigens mitten hinein in hochdramatische Religionskonflikte. Mitglieder ehemaliger Missionskirchen werden in einigen muslimischen, hinduistischen oder buddhistischen Mehrheitsgesellschaften wegen ihrer Geschichte diskriminiert: Wegen ihres Glaubens seien sie ebenso Fremde wie die Missionare, die diesen Glauben einst ins Land gebracht hatten. Hier wird Missionskritik zu einem Vorwand für die Ausgrenzung, Bedrohung und Verfolgung von Christen. Auch dies zeigt, wie die Beschäftigung mit der Missionsgeschichte zu aktuellen Fragen führt. Umso wichtiger ist eine informierte und differenzierte Debatte über sie, eine Debatte des „Auch“.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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