Johann Hinrich Claussen - 27. August 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Die ersten "Nichtregierungsorganisationen"


Ein anderer Blick auf die Geschichte der evangelischen Mission

Es ist ein schönes, aber unterschätztes Wort: „auch“. Zum Glück bietet sich eine gute Gelegenheit, es mehr einzusetzen. In Deutschland wird endlich über die koloniale Vergangenheit diskutiert. Da ist es notwendig, auch über die Mission zu sprechen. Lange hatte man sie nicht beachtet oder mit Klischees abgetan: Christliche Missionare als willige Helfer des staatlichen Kolonialismus, als Seelenräuber und Kulturdiktatoren. Nun stellen Klischees immer einen Teil der Wahrheit vor, aber nie die ganze, vielschichtige Wirklichkeit. So sind sie stets ebenso richtig wie falsch. Darum sei hier diese These aufgestellt: Die evangelische Mission versteht man nicht, wenn man sie nur als kirchliche Parallele zum staatlichen und wirtschaftlichen Kolonialismus betrachtet, sondern man muss sie auch als Vorgängerin der heutigen „Nichtregierungsorganisationen“, der NGOs, auffassen.

 

Die Missionsgesellschaften waren im 18. und 19. Jahrhundert keine kirchlichen Einrichtungen. Sie waren „NCOs“ – „Non-Church-Organisations“ – oder in damaliger Terminologie „freie Werke“, Vereine christlich engagierter Bürger, die sich dem Ziel verschrieben hatten, den Glauben in alle Welt zu tragen. Die äußere – wie auch die innere – Mission hätte nie eine so epochale Dynamik entfaltet, wenn sie in den Strukturen der institutionalisierten Kirchen gearbeitet hätte. Diese zeigte an einer Missionierung fremder Völker kein Interesse. Es waren kleine Gruppen nonkonformistischer Idealisten, die auf diesen verwegenen Gedanken kamen und ihn mit einer Begeisterung und Opferbereitschaft in die Tat umsetzten, die in den Amtsstuben der Konsistorien eher selten anzutreffen war. Sie waren von einer intensiven Frömmigkeit angetrieben, formulierten selbstbewusst eine eigene Theologie und vertraten auch politisch fortschrittliche Positionen – nicht selten im Widerspruch zur offiziellen Kirche.

 

Im Unterschied zu einer Pastoren- und Oberkirchenratskirche wollten die Missionsgesellschaften weniger behördenmäßig arbeiten, sondern in offenen Strukturen. Sie verstanden sich als Bewegung, die sich in Netzwerken organisierte. Ihre soziale Basis bildeten Freundeskreise, Unterstützerszenen und Kirchengemeinden. Besonders innovativ waren die Missionsfreunde in der Kommunikation. Ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben, war für sie lebenswichtig. Dafür nutzten sie alte und erfanden neue literarische Formen: Briefe, Lesepredigten, Rundschreiben, Erbauungstraktate, Zeitschriften, Kinder- und Jugendbücher, Romane für Erwachsene. Hinzu kamen Vortragsreisen mit Lichtbildern, lokale und regionale Zusammenkünfte, große Missionsfeste mit Zehntausenden von Besuchern. Die Missionsgesellschaften entfesselten eine eigene Medienrevolution. Mit ihren neuen Kommunikationsformen verbanden sich ein intensives Networking und ein erfinderisches Fundraising, Vorformen des heutigen Crowdfunding. Damit sammelten sie viel Geld ein und schufen eine Graswurzelbewegung, eine Massensolidarisierung, denn all die Spender mussten regelmäßig angesprochen, informiert und zusammengerufen werden.

 

Die Arbeit der Missionsgesellschaften richtete sich ebenso nach außen wie nach innen. Es ging ihnen nicht allein darum, fremde Völker für den christlichen Glauben zu gewinnen, vielmehr sollte die Arbeit in der Ferne Rückwirkungen auf die Heimat entfalten. Wie der Gründer der Gossner-Mission erklärte: „Wenn wir dafür sorgen, dass Heiden Christen werden, so dürfen wir nicht versäumen, auch darauf bedacht zu sein, dass Christen keine Heiden werden.“ Damit verbanden sich Ansätze zu einer „Mission der Akkommodation“. Darunter versteht man den Versuch, den Missionierenden kein kulturell fremdartiges Evangelium aufzustülpen, sondern die christliche Botschaft in ihre Kultur zu übersetzen. Die Voraussetzung dafür war, dass die aufgesuchten Länder keineswegs gottlose Gebiete seien, weil Gott immer schon vor den Missionaren da war. Deshalb galt es, die Kulturen der einheimischen Völker kennenzulernen, sie anzuerkennen und sich davor zu hüten, deren Lebensweise nach europäischen Kriterien zu beurteilen.

 

Das wird nicht jedem leichtgefallen sein. Jedoch waren viele Missionare selbst Grenzgänger, exzentrische Gestalten. Sie brachen ja zu einer Lebensreise auf, bei der sie nicht wissen konnten, ob sie ihre Heimat je wiedersehen würden. Man darf nicht vergessen, dass sie sich dabei in höchste Lebensgefahr begaben. Die ersten Missionare mussten ohne Tropenmedizin auskommen und starben schnell. Aber ihr christlicher Enthusiasmus trieb sie hinaus, verbunden mit Abenteuerlust und dem Wunsch, der heimatlichen Enge zu entkommen. Die Missionare rekrutierten sich nicht aus den gehobenen Ständen, sondern stammten zumeist aus Bauern- und Handwerkerfamilien. Waren sie erst einmal in der Fremde angekommen, begannen viele, sich mit dieser neuen Heimat zu identifizieren. Sie lebten nun inmitten einer ganz anderen Kultur, erlernten mühsam eine fremdartige Sprache, begegneten bitterster Not, genossen Gastfreundschaft, wurden von einer unfassbar schönen Natur überwältigt – da wurde ihnen die deutsche Heimat oft genug zu einer fernen, immer ferneren Welt. Deshalb sollte man Missionare nicht schlicht als Befehlsempfänger eines reichsdeutschen Kolonialismus ansehen. Das Leben fern der Heimat machte aus ihnen hybride Existenzen, in denen sich Eigenes und Fremdes vermischten. Manche glichen sich den Sitten der Einheimischen konsequent an, kleideten sich wie chinesische Mandarine oder heirateten eine indigene Frau. In diesem Sinn schrieb ein Basler Missionar 1855: „Mir ist fast alles zu europäisch, ich möchte mehr, soweit das Christentum erlaubt, Neger werden, um die Neger zu gewinnen.“

 

Selbstverständlich waren der europäische Blick und das koloniale Paradigma für die meisten evangelischen Missionare bestimmend. Dies war der zeitgeistliche Rahmen, den die wenigsten von ihnen durchbrechen konnten. Doch sollte man auch bedenken, wie weit sie diesen Rahmen ausdehnten und manchmal durchlöcherten. Dazu muss man sich bewusst machen, welche Opfer sie brachten. Allein die Wegstrecken, die sie zurücklegten, um zu abgelegen lebenden Menschen zu gelangen, sind zum Staunen oder Erschrecken. Und dann erst die Lebensumstände, die sie bereitwillig ertrugen, um mit denen zu leben, für deren seelisches und auch körperliches Wohl sie sich verantwortlich fühlten! Diese pietistischen Missionare waren eben auch Märtyrer, die mit ihrer ganzen Existenz den Glauben bezeugten, und auf einige müssen sie eben auch glaubwürdig gewirkt haben.

 

In ihre Arbeit, auch das war damals ungewöhnlich, bezogen sie zum einen Frauen, vor allem ihre Ehefrauen, ein. Die evangelische Mission war immer auch eine Frauensache. Zum anderen beteiligten sie Einheimische, zum Teil schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Missionierten wurden so selbst zu Missionaren und Mitakteuren. Was für die Herrnhuter von Beginn an eine echte Überzeugung war, wurde für größere Missionswerke später zu einer schlichten Notwendigkeit – besonders im Ersten Weltkrieg, als das Deutsche Reich seine Kolonien verlor: Da konnte die Arbeit nur weitergehen, indem die Verantwortung an Ortskräfte übertragen wurde.

 

Natürlich ist es nicht leicht, heute eine Bilanz zu ziehen. Wer es versucht, muss häufig „auch“ sagen. Da ist einerseits die religiös-kulturelle Überwältigung. Andererseits: Schulen brachten Bildung, Krankenstationen förderten Gesundheit, Betriebe und Genossenschaften gaben Arbeit zu fairen Bedingungen. Auch darf man nicht vergessen, dass einige Gräuel der Kolonialgeschichte von Missionaren bezeugt wurden. Sie lebten ja bei den Menschen, denen Gewalt angetan wurde, sie verfügten über die publizistischen Mittel, davon in der Heimat zu berichten. Aber offenkundig waren auch die Missionsgesellschaften vielfach in den staatlichen und wirtschaftlichen Kolonialismus verstrickt, manchmal aus ganz praktischen Gründen: Sie waren auf die Sicherheit angewiesen, die die „Schutztruppen“ garantierten, sie nutzten die Infrastruktur, die die Kolonialverwaltungen organisierten, und sie brauchten Geld von Spendern zu Hause. So machten sie sich abhängig, wurden Teil des kolonialen Systems, ließen sich korrumpieren.

 

Zu einer Bilanz gehören auch diese drei ungewollten Nebeneffekte. Erstens initiierten die Missionswerke einen vielfältigen Kulturtransfer, der nicht nur eine Richtung kannte. Sie brachten europäische Zivilisation in fremde Länder, importierten aber zugleich aus diesen kulturelle Entdeckungen nach Deutschland. Zweitens blieben die Menschen in Übersee keine Glaubensempfänger, sondern entfalteten eine staunenswerte Eigenständigkeit. Sie nahmen den neuen Glauben an, indem sie ihn verwandelten. Deshalb führte die evangelische Mission nicht zu einer Europäisierung der missionierten Weltgegenden, sondern zu einer Globalisierung und Pluralisierung des Christentums. Drittens zeigte diese religiöse Emanzipation auch politische Folgen. Wie Nelson Mandela einmal bemerkte, wäre der antikoloniale Kampf ohne die Missionsschulen nicht möglich gewesen. Auch die Anti-Apartheitsbewegung verdankte den Netzwerken der Missionsgesellschaften viel.

 

So ist die Geschichte der evangelischen Mission eine mit einem vielfachen „Auch“. Dieses kann man am besten durchbuchstabieren, wenn man die Parallelen zwischen den Missionsgesellschaften damals und den NGOs heute betrachtet: die Anfänge in kleinsten Gruppen hochengagierter Idealisten, das Arbeiten unabhängig von oder gegen etablierte Institutionen, die Organisation in Netzwerken, das kreative Fundraising, der Einsatz neuester Medien, das Nonkonformistische, das Engagement für Kulturtransfer, Entwicklungshilfe, Bildung, Gesundheit, Empowerment und Fair Trade. Aber auch: der extreme idealistische Anspruch, die damit verbundene Übergriffigkeit, der Glaube, selbst stets auf der Seite des Guten zu stehen, die Moralpolitik, die Unwilligkeit, sich einbinden zu lassen, die moralische Selbst- und Fremdüberforderung, schließlich die bewusst-unbewusste Komplizenschaft mit dem politisch-wirtschaftlichen System der Herkunftsgesellschaft. So ist die Missionsgeschichte auch ein ferner Spiegel, vor dem heutige NGOs über sich selbst nachdenken können.

 

Ein Urteil über die evangelische Mission lässt sich nicht bilden, ohne die Stimmen der anderen zu hören. Die Betrachtung der evangelischen Missionsgeschichte wäre bloß ein deutsches Selbstgespräch, wenn afrikanische oder asiatische Perspektiven nicht einbezogen würden. Für die Mission muss gelten, was bei postkolonialen Debatten inzwischen Standard ist: Es ist eine gemeinsame Geschichte, die gemeinsam betrachtet werden muss. Das kann zu scharfen Konfrontationen führen. Es können sich aber auch Überraschungen ergeben, wenn die eher missionskritischen Deutschen erleben, wie wichtig einigen Gesprächspartnern „ihre“ Missionsgeschichte ist. Das führt übrigens mitten hinein in hochdramatische Religionskonflikte. Mitglieder ehemaliger Missionskirchen werden in einigen muslimischen, hinduistischen oder buddhistischen Mehrheitsgesellschaften wegen ihrer Geschichte diskriminiert: Wegen ihres Glaubens seien sie ebenso Fremde wie die Missionare, die diesen Glauben einst ins Land gebracht hatten. Hier wird Missionskritik zu einem Vorwand für die Ausgrenzung, Bedrohung und Verfolgung von Christen. Auch dies zeigt, wie die Beschäftigung mit der Missionsgeschichte zu aktuellen Fragen führt. Umso wichtiger ist eine informierte und differenzierte Debatte über sie, eine Debatte des „Auch“.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.


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