„Dieses Buch ist eine Streitschrift“

Hans Jessen im Gespräch mit Götz Aly über sein Buch „Das Prachtboot“

Nicht nur Denkmäler oder Straßennamen zeugen von Deutschlands kolonialer Vergangenheit, sondern auch zahlreiche Museumsobjekte stammen aus einstigen Kolonien. Götz Aly widmet sein neues Buch dieser Raubkunst – Hans Jessen fragt nach.

 

Hans Jessen: Herr Aly, „Das Prachtboot“ ist ein exemplarisches Buch. Es würdigt die großartige kulturelle, handwerkliche, nautische Leistung von Südseebewohnern, die in der Lage waren, hochseetaugliche Seefahrzeuge zu bauen und Langstreckenfahrten zu unternehmen – lange vor den Europäern. Gleichermaßen dokumentieren Sie am Beispiel des Luf-Bootes aus dem Ethnologischen Museum Berlin die Zerstörung dieser Kultur durch eine rücksichtslose Kolonialpolitik, die auch Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts betrieb. Die Gleichzeitigkeit von Hochkultur und Barbarei ist der beabsichtigte Kern Ihrer Darstellung?

Götz Aly: Das Boot ist Weltkulturerbe. Bevor die Kolonialmächte in die Südsee einfielen, sie ihrer Herrschaft und Modernität und Eisenkultur unterwarfen, hatte es Tausende solcher Boote gegeben. Das Luf-Boot dokumentiert, wie die Südsee vor Jahrtausenden besiedelt worden ist. Wir haben nun das letzte Exemplar hier in Berlin. Es ist prächtig bemalt. Es kann 50 Menschen tragen und stammt aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Neuguinea. Die Seefahrer verfügten über die Fähigkeit, mithilfe der Sterne zu navigieren. Ohne Schriftsprache übermittelten sie ihr Wissen von Generation zu Generation. In der von Europa dominierten „Welterschließungsperiode“, wenn man den Kolonialismus freundlich umschreiben will, wurden alle diese Kunstfertigkeiten vernichtet. Das geschah mittels moderner Werkzeuge, bedenkenloser wirtschaftlicher Ausbeutung und Plünderung und dem brutalen Einsatz militärischer Gewalt. Der nackte mörderische Terror wurde als „Vergeltung“, „Strafexpedition“ oder „Züchtigung“ beschönigt.

 

Was konkret veranlasste Sie, dieses Buch zu schreiben?  

Eine Kette von Zufällen. Zum einen war mein Urgroßonkel Gottlob Johannes Aly bei der Eroberung dabei. Als Marinegeistlicher gehörte er zur Mannschaft jenes Schiffs, das die deutsche Flagge im Kolonialgebiet der Südsee gehisst hat: der Kreuzerkorvette „S.M.S. Elisabeth“. Über ihn gibt es eine dicke Akte im Familienarchiv, das ich verwalte. Über sein Leben lässt sich viel Freundliches sagen, aber auch er hatte diesen „kolonialen Blick“ wie damals fast alle Europäer. Er sprach von „unter Schutz stellen“, „zivilisieren“ und „christianisieren primitivster Menschen“. Außerdem kannte ich das Luf-Boot. Wir waren mit unseren Kindern vor 45 Jahren oft genug an verregneten Sonntagen im Ethnologischen Museum Dahlem und haben dieses Boot bestaunt.

Das dritte mich motivierende Moment war das Humboldt Forum, in dem das Boot eine herausragende Rolle spielen soll, und die damit verbundene und schnell zunehmende Diskussion zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Auch wenn die Debatte von Initiativen vorangebracht wird, deren Ansichten ich nicht immer teile, so hat sie mich doch beeinflusst und auf das Thema gebracht. Nicht zuletzt trug die Tatsache, dass das Humboldt Forum so lange nicht öffnete, zum Buchprojekt bei. Ich hatte Mitte 2019 angefangen und wollte eigentlich nur einen Aufsatz schreiben. Je länger sich die Eröffnung verzögerte, desto mehr arbeitete ich mich ein und umso interessanter erschien mir das Thema. Dann hörte ich aus einem Hintergrundgespräch mit Journalisten, dass man im Humboldt Forum vorsichtig agieren wolle und Objekte, die allzu sehr und offenkundig kolonial belastet seien, gar nicht erst ausstellen werde.

Aber seiner Größe wegen war das Boot wohlverpackt schon in den Rohbau gehievt worden und die entsprechende Außenwand erst dann zugemauert worden. In diesem Moment dachte ich: Interessant! Das Boot kriegen sie nicht wieder heraus – dann nehme ich das Prachtboot als Paradestück für eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Das Buch war vor mehr als einem Jahr fertig. Die Literatur ist übersichtlich, die Arbeit daran war viel einfacher als in der Holocaust-Forschung. Man muss in den Archiven nur die alten Handschriften lesen können. Alles liegt offen zutage, und die Deutschen damals – also vor 120 Jahren – hatten kein schlechtes Gewissen: Über ihre sogenannten Strafexpeditionen berichteten sie in den Zeitungen. Im Unterschied dazu haben die Nazi-Herrscher am Ende versucht, möglichst viel zu vernichten. Dieses Buch schrieb sich sehr einfach.

 

Als Historiker, der die Gewalttaten des 20. Jahrhunderts erforscht, Holocaust und Faschismus, kennen Sie Dokumente, die Gewalt und Vernichtung bezeugen. Haben Sie Vergleichbares bei der Arbeit an diesem Buch erlebt?

Mir sind Massenmorde an den Herero und Nama selbstverständlich bekannt, ebenso die blutige Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika. Aber das Bild der Südsee war doch eher friedlich geprägt. Mich hat das Ausmaß und die Selbstverständlichkeit der Straf- und Mordaktionen dort sehr überrascht. Ich wusste vorher nicht, dass auf der Insel Luf, von der das berühmte Prachtboot stammt, ganz gezielt eine brutale Strafexpedition stattgefunden hatte. Solche Strafexpeditionen sind in den Lebenserinnerungen deutscher Kolonialbeamter mit Stolz beschrieben worden. Sie brüsteten sich damit, wie sie ganze Dörfer abbrannten – aber auch Kunstwerke mitnahmen, um damit die deutschen Museen für Völkerkunde, insbesondere das in Berlin, zu beliefern. Das ist seit über 100 Jahren nachzulesen – es hätte nichts dagegengesprochen, sich früher mit all diesen Fakten zu beschäftigen.

 

Zur Geschichte des Luf-Bootes, so wie sie uns übermittelt wird, gehört das Narrativ: Wegen „Bevölkerungsrückgangs“ auf der Insel sei das Boot nach der Fertigstellung nie zum Einsatz gekommen und deswegen praktisch „neuwertig“ letztlich in Berlin gelandet. Zur historischen Wahrheit, die Sie im Buch dokumentieren, gehört, dass das kein „Bevölkerungsrückgang“ war, sondern die brutale Vernichtung großer Teile des Inselvolkes.

Ja, und zwar mit unterschiedlichen Methoden. Es begann 1882/83 mit einem Überfall zweier deutscher Kriegsschiffe – einer „Strafexpedition“: 350 deutsche Soldaten gegen 400 Inselbewohner, die meisten davon Frauen und Kinder. Man muss davon ausgehen, dass alle Hütten und Schiffe von den Landungstrupps abgebrannt und zerschlagen sowie 50 bis 200 Männer getötet wurden. Anschließend wurden weitere Menschen von Luf zur Arbeit auf andere Inseln deportiert. Man nannte es „Labourtrade“, im Grunde eine Form von zeitlich befristeter Sklaverei, die offiziell verboten war. Die deutsche Firma Hernsheim errichtete eine Handelsstation, die Insel wurde ökonomisiert. Während dieses Prozesses wurden Krankheiten eingeschleppt wie in vielen anderen Kolonien auch. Syphilis, Tuberkulose, Grippe, Masern – daran starben weitere Menschen in großer Zahl. Das waren die Ursachen für den von Hermann Parzinger nicht näher erklärten „Bevölkerungsrückgang“.

Entgegen diesen nachweisbaren Tatsachen entstand die Mär vom „freiwilligen Aussterben“ der Menschen auf Luf. Sie diente von Anfang an der Rechtfertigung, der Beruhigung des Restgewissens einiger Europäer. Schon 1906 fand diese 1903 in einem Fachblatt zu einer „wissenschaftlichen Mitteilung“ geadelte Lüge Eingang in den Großen Brockhaus.

Ihr Buch wirft ein hartes Schlaglicht auf die historischen Bedingungen, unter denen das Boot 1904 dann nach Berlin kam. Jetzt ist es hier – und ein einmaliges kulturell-historisches Zeugnis. Es soll eine herausragende Rolle im Humboldt Forum spielen. Was müssten zukünftige Besucher über dieses Boot und seine Geschichte wissen?

Nach meiner Erinnerung an den früheren Standort in Dahlem war die Dokumentation damals miserabel. Man müsste klarmachen, was „Weltkulturerbe“ am Beispiel dieses Bootes bedeutet. Man konnte damit Hunderte Kilometer weit über das offene Meer segeln. Das Boot konnte kentern, und die Besatzung konnte es wieder aufrichten – hochmodern. Das muss man herausarbeiten.

Neben dieser Verneigung vor dem Weltkulturerbe wäre es notwendig, den kolonialgeschichtlichen Hintergrund genau, ohne jedes Ausweichen ins Ungefähre darzustellen: die militärische und die ökonomisch motivierte Gewalt. Wie ist die von Europa ausgehende Zerstörung dieser Welt vonstattengegangen? Das lässt sich am Beispiel des Luf-Bootes exemplarisch zeigen.

Wir sollten sagen: Wir haben alles hier ­– und nun reden wir darüber. Das Humboldt Forum müsste sich als Ort eines offenen Prozesses verstehen. Wie und wann dieser endet, das lässt sich nicht vorhersagen. Auf der Seite des Ethnologischen Museums bedeutet das zuallererst, die Inventare zu veröffentlichen, nicht als Faksimile in altdeutscher Schrift, sondern übertragen in moderne, lesbare Typografie. Das lässt sich schnell machen, genauso wie eine Übersetzung der Verzeichnisse ins Englische – sie müssen international verstanden werden können.

Wir sollten uns endlich ehrlich machen. Zum Beispiel taucht in den bislang bruchstückhaften Online-Dokumentationen des Ethnologischen Museums „SMS-Hyäne – Expedition“ als „Sammlerin“ auf. Wenn man stattdessen schreiben würde „Kanonenboot Hyäne – Strafexpedition“ klänge die Information schon sehr anders. Oder, wie bei den Benin-Bronzen steht auch bei Südsee-Objekten oft „Sammlerin Webster“. „Webster“ war der Name eines Londoner Auktionshauses, dem britische Soldaten, Kaufleute und Abenteurer Objekte aus Plünderungen und Raubzügen anlieferten, die dann auf dem Weltmarkt verscherbelt wurden. Auch da ließe sich spielend einfach – mit einem schlichten Korrekturbefehl am Rechner – Klarheit herstellen. Ich bin gespannt, wann das endlich geschieht.

 

Sollte Ihres Erachtens eine Politik genereller Restitution, möglichst rascher und kompletter Rückgabe eingeleitet werden, weil so viele dieser Objekte unter faktischem Raubkunstverdacht stehen?

Nein – nicht generell, nicht uninformiert, nicht überstürzt. Oft weiß man nicht, wem was einst gehörte. Wichtig erscheint mir eine Position der Offenheit. Objektiv ist es doch so, dass die Artefakte gerettet sind, in dem Sinne, dass sie nicht vernichtet, sondern bewahrt wurden. Ich halte es für richtig, die so lange vermiedenen Dialoge mit Politikern, Museumsleuten, Historikern, gesellschaftlichen Interessengruppen aus den Staaten zu beginnen, die einst europäische Kolonien waren. Vorher sollte die deutsche Seite erklären, dass sie sich nicht als Eigentümerin versteht, sondern als Treuhänderin, die alle verfügbaren Informationen offenlegt. Für das Prachtboot von der Insel Luf bedeutet das: Wir wissen heute nicht, wann und in welcher Weise Vertreter und Bürger des Staates Papua-Neuguinea sich dazu äußern werden. Das kann Jahre dauern. Denkbar ist auch, dass ein nachträglicher Kauf angeboten oder über einen Nachbau des Bootes verhandelt wird. Nur darf die deutsche Seite nicht davon ausgehen, dass ihr das Boot gehört. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat sich mein Verlag auch erfolgreich um die Übersetzung meines Buches ins Englische bemüht. Ich möchte unbedingt, dass die Leute in Papua-Neuguinea meine Forschungsergebnisse lesen können. Sie sind viel zu lange nicht gefragt und als Objekte der Weltgeschichte ignoriert und ihre Vorfahren schwer misshandelt worden.

 

Die Reaktion kritischer Ethnologen, also solcher, die an historischer Aufarbeitung von Sammlungsgeschichte interessiert sind, auf Ihr Buch ist zwiespältig: Einerseits Lob für das Schlaglicht, das Sie auf den historischen Kontext werfen – andererseits ist aber auch zu hören, Sie würden die Rolle der Museums- und Sammlungsbegründer zu eindimensional schildern, als willfährige oder blinde Mitläufer kolonialistischer Ausplünderungen. Der US-amerikanische Forscher Rainer Buschmann, den Sie im Buch explizit hervorheben, geht mit frühen deutschen Ethnologen oftmals milder um als Sie. Was sagen Sie zu solchen Reaktionen?

Rainer Buschmann ist für mich ein wichtiger Diskurspartner, er hat mein Manuskript vorab gelesen, einige seiner Anmerkungen habe ich aufgenommen. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesen Fragen und ist mir in mancher Hinsicht gewiss überlegen. Andererseits: Ich habe ein interventionistisches Buch geschrieben und gehöre nicht der ethnologischen Wissenschaftsgemeinde an. Auch das hat Vorteile. Ich fühle mich frei von kollegialen Rücksichten. Mein Buch „Das Prachtschiff“ verstehe ich als Streitschrift. Es soll die Diskussion befeuern und das kritische Bewusstsein schärfen. Wenn das gelänge, wäre ich froh.

 

Vielen Dank. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Götz Aly & Hans Jessen
Götz Aly ist Historiker. Hans Jessen ist freier Journalist.
Vorheriger ArtikelDie Beninbronzen