Die didaktischen Szenarien für die Behandlung des Ersten Weltkrieges im Unterricht weisen in den einzelnen Ländern aber weiterhin erhebliche Differenzen auf, was besonders das deutsch-französische Beispiel zeigt. In der Tat sind alle nationalen Feindbilder aus den Büchern der ehemaligen Erbfeinde verschwunden. Während deutsche Bücher die Kriegsanstrengungen des kaiserlichen Heeres kritisch befragen, die Kriegsfreiwilligen als von nationalen Gefühlen verführte junge Männer darstellen und eine Identifikation mit den deutschen Soldaten verhindern, machen französische Schulbücher deutlich, dass die französischen Soldaten, die „Poilus“, Teil der positiven republikanischen Tradition sind. Neben dem unterschiedlichen Umgang mit der Nationalgeschichte spielen hier insbesondere auch die unterschiedlichen didaktischen Standards eine wesentliche Rolle. Während deutsche Schülerinnen und Schüler beurteilen und bewerten sollen, also Sach- und Werturteile fällen, steht im französischen Geschichtsunterricht das faktenbezogene, historische Verstehen im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens. Vor diesem Hintergrund haben sich transnationale Zugänge auf die Darstellung des Ersten Weltkrieges im Unterricht als besonders erkenntnisfördernd erwiesen.
In den letzten Jahren haben globalgeschichtliche Perspektiven das Bewusstsein dafür geschärft, dass der Erste Weltkrieg nicht auf den westeuropäischen Kriegsschauplatz, die europäischen Mächte und die USA beschränkt werden darf. Sie richten ihren Blick in einer vergleichenden Perspektive auch auf den osteuropäischen Kriegsschauplatz oder den Krieg des Osmanischen Reiches gegen die jungen Nationalstaaten Südosteuropas. Dabei zeigt das Studium russischer Schulbücher, dass der Erste Weltkrieg trotz verschiedener Versuche, seinen patriotischen Charakter zu propagieren, nicht die Bedeutung eines Vaterländischen Krieges erlangte. Diese Bezeichnung blieb den siegreichen Kriegen gegen Napoleon und den deutschen Faschismus vorbehalten.
Mit der Ausweitung ihres Fokus auf die außereuropäische Welt haben Autorinnen und Autoren neuer Schulbücher in zahlreichen Ländern aber vor allem das Bewusstsein dafür geschärft, dass ein von Europäern, die sich wirtschaftlich, politisch und kulturell der Bevölkerung anderer Erdteile überlegen wähnten, verursachter Krieg in einen Weltkrieg mündete, der zu einer grundlegenden Delegitimierung der europäischen Überlegenheit führte. Diese Perspektive auf den Ersten Weltkrieg wird in afrikanischen Schulbüchern herausgearbeitet. Sie findet aber auch in zunehmendem Maße Eingang in europäische Schulbücher. Beispielsweise lässt das deutsch-französische Geschichtsbuch den algerischen Weltkriegsteilnehmer Emir Khaled zu Wort kommen. In seinem Brief an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson fordert dieser selbstbewusst das Recht auf nationale Unabhängigkeit und begründet diese Forderung auch mit der durch die Kolonialmacht Frankreich erzwungenen Teilnahme an einem Krieg, den er selbst für ungerecht hielt.
Inzwischen haben auch die Ergebnisse der Forschungen zur Erinnerungskultur und -politik Aufnahme in die Schulbücher gefunden und das Bewusstsein für eine über Texte hinausreichende Materialität der historischen Überlieferung geschärft.
Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmale haben einen festen Platz im Bilderkanon der Schulbücher gefunden. Sie bieten sich in besonderem Maße an, die Arbeit am Prozess des Erinnerns und Vergessens als einen kontrovers geführten Prozess zu rekonstruieren. In einer transnationalen Perspektive helfen sie nicht zuletzt Schülerinnen und Schülern, das unterschiedliche Bild zu verstehen, das von der Rolle und dem Ansehen des Soldaten in der Gesellschaft gezeichnet wird. Der untrennbar positiv besetzten Verbindung von Bürger und Soldat, die in Gestalt des in der Französischen Revolution geborenen „soldat-citoyen“ lange Zeit nahezu ungebrochen in französischen Schulbüchen vermittelt wurde, steht eine durch den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus geprägte Perspektive auf das Militär in deutschen Schulbüchern gegenüber.
Die erinnerungskulturelle Perspektive gestattet ferner den Brückenschlag zwischen Schulbuch und außerschulischen Lernorten, an denen Schülerinnen und Schüler in zahlreichen bi- und multinationalen Projekten auf Spurensuche in Museen und Gedenkorten die Geschichte des Ersten Weltkrieges rekonstruieren. Besondere Bedeutung haben hier die pädagogischen Projekte des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der in seinen internationalen Jugendbegegnungsstätten junge Menschen aus den ehemals verfeindeten Ländern in der Arbeit über die unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen zusammenführt.
Die inzwischen auch zahlreich digital verfügbaren Quellen und der virtuelle Zugang zu fernen Lernorten stellen auch beim Thema Erster Weltkrieg eine neue Herausforderung für das Schulbuch dar. Sie eröffnen die große Chance, den Schülerinnen und Schülern mit einem über das Klassenzimmer hinausreichenden multimedialen Angebot eine transnationale Perspektive auf den Ersten Weltkrieg zu bieten, die auch die anspruchsvollen Forderungen der Geschichtsdidaktik umsetzen kann. Schulbuchautorinnen und -autoren stehen nunmehr vor der Aufgabe, das klassische, gedruckte Lehrbuch mit den neuen digitalen Angeboten von WorldViews oder Historiana zu verzahnen. Hier ergeben sich bislang ungeahnte Möglichkeiten bi- oder multinationaler Zusammenarbeit.