Präverbal und postmodern?

Der Erste Weltkrieg in der Literatur

George Carlin, der 1972 für sein Comedy-Programm „Sieben schmutzige Wörter, die man nicht im Fernsehen sagt“ berühmt wurde, hat einmal gesagt, wir hätten zwei Lieblingsvorsilben, weil wir damit Sachen gern wichtiger machen würden, als sie sind: „prä“ und „post“. Postmodern, postfaktisch, postmateriell, pränatal, präverbal, präeminent. Große Ereignisse deuten sich durch Vorzeichen an. Sie hinterlassen ihre Spuren. Und sie sind nicht ganz zu begreifen, vielleicht überhaupt nicht einmal darzustellen, wenn sie da sind. Sie machen uns sprachlos.

 

In der Geschichte nicht nur der deutschen Literatur ist der Erste Weltkrieg vor allem ein solches Phänomen des Vorher und Nachher. Zwei der großen Romane des 20. Jahrhunderts, „Ulysees“ von James Joyce und „Der Prozess“ von Franz Kafka, ein philosophisches Hauptwerk, Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“, und ein berühmter Gedichtzyklus, Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“, haben eines gemeinsam: Sie alle sind während des Ersten Weltkrieges entstanden. Sie sind Texte dieses Krieges, auch wenn man ihnen diese Entstehungszeit nicht auf den ersten Blick ansieht. Die bekannten Weltkriegsromane dagegen wurden nach dem Krieg geschrieben – oder vorher. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und Ernest Hemingways „In einem anderen Land“ erschienen beide 1929, H. G. Wells Weltkriegsvision „Der Krieg in der Luft“ 1909.

 

Der Hauptgrund für diese Vor- und Nachzeitigkeit des Ersten Weltkrieges in der Literatur dürfte neben individuellen und politisch-ökonomischen Gründen ein ästhetischer sein: Die Literatur, überhaupt die Kunst der Moderne definiert sich über das Gegenteil von Harmonie. Der Kubismus und der Expressionismus, der Symbolismus und der Impressionismus, die naturalistische und die abstrakte Kunst zielen alle auf Auflösung einer bestehenden Welt. Das Böse, die Dissonanz, das überbordende Einzelne, das Maßlose und Massenhafte, das Nervöse, das Abgründige und das Verdrängte, der Hass, das Nichts und eben der Krieg sind ihre formgebenden Gegenstände.

 

Der Begriff, unter dem sich diese Moderne programmatisch definierte, entstammt der militärischen Sprache: „Avantgarde“ – die Vorhut, die als allererstes Kontakt mit dem Feind hat. Friedrich Nietzsches Buch „Also sprach Zarathustra“ von 1891 ist einer ihrer Leittexte: „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge gethan, als die Nächstenliebe.“ Filippo Marinetti variiert das 1909 im „Futuristischen Manifest“: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“

 

Allen ethischen und moralischen Einwänden zum Trotz ist der Krieg in der Kunst ein Modell, um künstlerische Darstellungsweisen zu finden und zu begründen, die an uralte anschließen: Die Epen Homers sind Kriegserzählungen. Nicht erst um 1910 schürte die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Kunst auch die nach dem Abenteuer und dem Krieg. 1773 zählte Johann Gottfried Herder diese Urformen der Poesie auf: „Sterbelied und Kriegsgesang, Schlacht- und Grablied, historische Lobgesänge auf die Väter und an die Väter.“ Mitte der 1920er Jahre wird Hemingway F. Scott Fitzgerald nach Amerika die ersten Dokumentationen über den Ersten Wektkrieg schicken: „Der Krieg ist das beste Sujet von allen. Er bietet ein Maximum an Material, beschleunigt die Handlung und bringt alles mögliche hervor, auf das man normalerweise ein Leben lang wartet.“

 

Als ein literarisches Urereignis feierte der 39-jährige Rilke, der auf einer Deutschlandreise vom Kriegsausbruch überrascht wird und nicht in seine Wahlheimat Paris zurückkehren kann, in den ersten Augusttagen 1914 den Krieg. In ein Buch mit Friedrich Hölderlins Übersetzungen des griechischen Dichters Pindar schrieb er: „Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn / hörengesagter fernster unglaublicher Kriegs-Gott. Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft / nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott, / schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat / schreit, den er donnernd bewohnt, sein röthlicher Himmel.“ Schon 1911 hatte der 23-jährige Georg Heym den Krieg beschworen: „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, / Aufgestanden unten aus Gewölben tief. / In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, / Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.“

 

In seinem Tagebuch nennt Heym einen Grund für die Sehnsucht nach dem Krieg: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“ Auch Kafka, der den „Prozess“ wenige Tage nach Kriegsausbruch als Kampf gegen sich selbst begann, wollte eingezogen werden – mit Soldatenstiefeln probierte er wenigstens theoretisch die Verwandlungskraft des Krieges aus: „In den schweren Stiefeln, die ich heute zum erstenmal angezogen habe (sie waren ursprünglich für den Militärdienst bestimmt), steckt ein anderer Mensch.“ Noch zehn Jahre nach Kriegsausbruch ließ er in „Der Bau“ ein Tier unter der Erde ein weitverzweigtes Tunnelsystem anlegen und sich darin verschanzen: 1915 hatte er in Prag ein Schauschützengrabenmodell gesehen.

Heike Gfrereis
Heike Gfrereis ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungsmacherin. 2014 hat sie im Literaturmuseum der Moderne in Marbach die beiden Parallel-Ausstellungen "August 1914. Literatur und Krieg" und "Kafka. Der ganze Prozess" kuratiert
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