Der „Welt“ im Weltkrieg gedenken

Der Erste Weltkrieg und der Anfang vom Ende der Kolonialreiche

Die „Welt“ wird oft vergessen im „Welt“krieg. Schon die Feierlichkeiten und Publikationen zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs des Ersten Weltkrieges zeigten dies, und auch die Berichte und Reden seitdem. Kaum wurde und wird darauf hingewiesen, dass auch in den deutschen Kolonien in Afrika Krieg geführt wurde. Wobei in Deutsch-Ostafrika die Grenzen zu den Nachbarkolonien überschritten und die gesamte Region in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dort kämpfte Paul von Lettow-Vorbeck befehlswidrig sogar über das Kriegsende in Europa hinaus. Mit Hunderttausenden von Toten, meist aus der Zivilbevölkerung, über die meist niemand spricht, sollte dem ostafrikanischen Kriegsschauplatz sogar in dem an großen Opferzahlen wahrlich nicht armen Krieg in Europa Aufmerksamkeit sicher sein. Sollte …, wenn die koloniale Amnesie nicht auch den Weltkrieg in Afrika umfassen würde. Cum grano salis gilt dies auch für den Beitrag Afrikas bzw. von Afrikanerinnen und Afrikanern zum Krieg in Europa. Erst allmählich tritt die Bedeutung insbesondere des Britischen Empire sowie des französischen Kolonialreiches und ihrer personellen Ressourcen für die Kriegsanstrengungen der Alliierten ans Licht der Geschichte.

 

Das Deutsche Reich dagegen war fast von Anfang an von seinen Kolonien abgeschnitten, hier war keine Unterstützung zu erwarten. Umso unsinniger war der Abnutzungskrieg, den Lettow-Vorbeck in Ostafrika, der Logik der „Blutmühle“ von Verdun folgend, führte. Für den Ausgang des Krieges irrelevant, kämpfte er, um Truppen zu vernichten, damit diese nicht in Europa zum Einsatz kamen. Das und die Bereitschaft insbesondere der Briten, sich auf diese Logik einzulassen, kostete Hunderttausende das Leben. Dass die meisten der alliierten Truppen gar nicht dafür vorgesehen waren, macht das Verhalten noch unsinniger. Im offiziellen Gedenken der Europäer fehlen sie weitgehend, und nichts spricht dafür, dass sich diese Ausblendung des Kolonialismus zum 100. Jahrestag des Kriegsendes groß ändert. Dabei hatte der Erste Weltkrieg Auswirkungen auf die gesamte Welt, war in seiner Bedeutung also wahrlich global. Diese Konsequenzen waren zum Teil kurzfristig sichtbar, teilweise hatten sie Folgen, die erst Jahrzehnte später zum Tragen kamen.

 

Zu den unmittelbarsten Ergebnissen gehört der Entzug der deutschen Kolonien durch den Frieden von Versailles und die Auflösung des Osmanischen Reiches und die Unterstellung der jeweiligen „Erbmasse“ als Mandatsgebiete des Völkerbundes unter die Siegermächte. Dabei blieben sie de facto noch jahrzehntelang unter europäischer Kolonialherrschaft. Erst 1990 wurde etwa Namibia, das vormalige Deutsch-Südwestafrika, unabhängig von Südafrika.

 

Die Folgen dieser Neuverteilung beschäftigen die internationale Politik teilweise bis heute. Man denke nur da­ran, dass der Islamische Staat (ISIS) 2014 in einem Video vollmundig das Ende von „Sykes-Pycot“ verkündete und zum Zeitpunkt seiner größten territorialen Ausweitung die Grenze zwischen Syrien und Irak „annullierte“ – zumindest vorläufig. Gemeint war damit das gleichnamige Abkommen von 1916, in dem Großbritannien und Frankreich ihre jeweiligen Einflussgebiete im Nahen Osten absteckten und die Verteilung der Reste des Osmanischen Reiches vorbereiteten. Die späteren Staaten Syrien und Libanon wurden der französischen Seite zugeschlagen, Irak und Kuweit der britischen.

 

Zum Erbe des Ersten Weltkrieges gehört letztendlich aber auch die Gründung Saudi-Arabiens, vorbereitet durch die Aktionen des heroisierten Lawrence von Arabien, der als Agent arabische Gruppen zur Revolte gegen das Osmanische Reich als Alliierte Deutschlands und Österreichs anstachelte, und vor allem mit der Dynastie Ibn Saud eng zusammenarbeitete. Die Dynastie regiert das Königreich am Golf bis heute.

 

Aber auch Israel hat eine seiner Wurzeln im Krieg. Um sich die Unterstützung vieler Juden und insbesondere der Zionisten zu sichern, ließ der britische Außenminister Arthur Balfour in einem Geheimvertrag versprechen, diese bei der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu unterstützen. Auf diese „Balfour Declaration“ stützten sich viele, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg im mittlerweile durch Großbritannien verwalteten Mandatsgebiet Palästina einen eigenständigen jüdischen Staat gründeten.

 

In Afrika wurde das deutsche Kolonialreich, militärisch schon während des Krieges besetzt, in den Friedensverhandlungen von Versailles liquidiert und aufgeteilt. Dabei standen die Verhandler der Kolonialmächte vor einem Problem. Die 1917 in den Krieg eingetretenen USA, die nicht zuletzt dadurch ihren Aufstieg zur Weltmacht einleiteten, hatten ihre Vorstellungen für einen zukünftigen Frieden Anfang 1918 niedergelegt. Woodrow Wilsons „14 Punkte“ hatten auch eine durchaus antikoloniale Stoßrichtung. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ sollte auch für kolonisierte „Völker“ gelten und wurde von diesen durchaus auch in Anspruch genommen. So schickte etwa der südafrikanische African National Congress (ANC), die spätere Partei Nelson Mandelas, eine Delegation nach London und Paris, die eben dieses Selbstbestimmungsrecht für sich selbst einforderte und auch für die südwestafrikanische Bevölkerung zu sprechen versuchte. Sie argumentierte, dass Deutsch-Südwestafrika nicht Südafrika als Mandat zugesprochen werden dürfe. Die Delegation wurde nicht empfangen.

Die Vertreter der Kolonialmächte in Versailles standen vor dem Problem, die von ihnen gewünschte Umverteilung rechtfertigen zu müssen. Als Lösung entwarf der aus Südafrika stammende Vertreter Großbritanniens, Jan Smuts, das sogenannte „Mandatssystem“. Da, so die selbst in einer kolonialen Kontinuität stehende Argumentation, die Bevölkerung in den ehemaligen Kolonien und abhängigen Gebieten des Deutschen und des Osmanischen Reiches noch nicht reif für die Selbstbestimmung sei, würden die Kolonialmächte im Auftrag des neu gegründeten Völkerbundes die Verwaltung dieser Gebiete übernehmen, mit dem Ziel, diese auf die Selbstbestimmung vorzubereiten. Damit konnten auch die USA zustimmen, die Reiche der Kriegsverlierer waren de facto verteilt.

 

Dennoch erwies sich dieser diplomatische Trick als folgenreich. Denn wenn sie sich auch nicht daran hielten, die neuen Mandats-, die alten Kolonialmächte und Südafrika hatten einem „Entwicklungsauftrag“ für die Kolonien zugestimmt. Die Kolonialherrschaft war damit nicht mehr nur durch die Interessen der Kolonialmächte legitimiert, sondern die Interessen der Kolonisierten als Maßstab war festgeschrieben. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die Kolonialkritik auf die verletzte und von den Kolonialmächten selbst zugestandene Fürsorgepflicht berufen, und aus der Vernachlässigung die Forderung nach dem Ende der Kolonialherrschaft ableiten.

 

Der Friede von Versailles ist damit zweifellos ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Kolonialismus. Ein Wendepunkt auch deshalb, weil der Kampf der Kolonialmächte gegeneinander die Kolonisierten gelehrt hatte, dass sie keineswegs einer einheitlichen Phalanx der europäischen Nationen gegenüberstanden, und noch wichtiger, dass „Weiße“ nicht unbesiegbar waren. Sowohl auf den Kriegsschauplätzen in Afrika als auch auf den europäischen Schlachtfeldern sahen die kolonialen Truppen, dass ihre imperialen Herren genauso litten, verletzt wurden und starben wie sie selbst. Um genau diesen Eindruck zu verhindern, hatte es schon seit der Berliner AfrikaKonferenz 1884/85 Bestrebungen gegeben, Afrika im Falle eines Krieges der europäischen Mächte untereinander zu neutralisieren. Es kam anders, und die Saat für die Dekolonisation vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg war gelegt.

 

Zunächst aber wuchsen Empire und Kolonialbegeisterung an. Das Britische Empire, das größte Imperium der Geschichte, erreichte seine größte Ausdehnung in den 1920er Jahren, auch dank der Zugewinne in Versailles. Viele Deutsche fühlten sich nicht nur durch die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, die in den Friedensvertrag von Versailles aufgenommen worden war, gedemütigt, sondern auch durch die Wegnahme der Kolonien und die im Vertrag festgestellte Unfähigkeit der Deutschen zur Kolonisation. Der Kampf gegen die „Kolonialschuldlüge“ wurde wie der gegen die „Kriegsschuldlüge“ zu einem Mobilisationskern des Kampfes gegen das „Diktat von Versailles“ und gegen die Weimarer Republik. Die Kolonialbegeisterung in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt in den 1930er Jahren. Viele Kolonialrevisionisten fühlten sich zu den Nationalsozialisten hingezogen, weil sie erwarteten, dass diese mit der Überwindung von „Versailles“ auch die deutschen Kolonien zurückerlangen würden. Sie täuschten sich. Das Kolonialreich, das die Nationalsozialisten planten und mit dem Überfall auf Polen und dem Einmarsch in die Sowjetunion auch zu verwirklichen begannen, sollte im Osten liegen. Der Zweite Weltkrieg, der auch um das deutsche Kolonialreich im Osten geführt wurde, besiegelte dann endgültig die Zukunft der Kolonialreiche.

Jürgen Zimmerer
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt auf Afrika an der Universität Hamburg und Leiter der dortigen Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) Globalisierung".
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