Der Große Krieg

Erfahrungen des Ersten Weltkrieges 1914 bis 1918

Bereits die Zeitgenossen nannten den 1914 ausgebrochenen militärischen Konflikt der europäischen Mächte den „Großen Krieg“ und so heißt er in einigen Ländern bis heute: „The Great War“, „La Grande Guerre“, „De Groote Oorlog“. Auch in Deutschland sprach man damals vom „Großen Krieg“. Was diesen Krieg in den Augen der Mitlebenden „groß“ werden ließ, war die Tatsache, dass der Erste Weltkrieg ein „industrialisierter Massenkrieg“ war, in welchem individuelle Opfer millionenfach gefordert und scheinbar bereitwillig entrichtet wurden. Allein die ungemein blutigen „Grenzschlachten“ in Elsass-Lothringen zu Beginn des Krieges brachten höhere Verluste an Soldaten als der gesamte Deutsch-Französische Krieg von 1870/71. Von den zwischen August 1914 und November 1918 weltweit eingesetzten mehr als 60 Millionen Soldaten verloren nahezu zehn Millionen ihr Leben: Auf den Tag gerechnet waren dies 6.000 Soldaten. Etwa 15 Millionen Soldaten wurden verwundet: Manche hatten die Folgen der Verwundung ein ganzes Leben zu tragen, für viele verkürzte sich dadurch die Lebenserwartung erheblich.

 

Die Soldaten fielen nicht nur in den großen Schlachten an der Westfront – etwa in Flandern, bei Verdun und an der Somme, dort, wo für nur wenige Kilometer Bodengewinn Hunderttausende ihr Leben lassen mussten. Auch im Osten Europas, auf dem Balkan, in den Alpen, im Vorderen Orient – sogar in Afrika und Asien wütete dieser Krieg und kostete zahllose Menschenleben. Zugleich kämpften, auch auf den europäischen Kriegsschauplätzen, Soldaten aus zahlreichen nichteuropäischen Nationen und Ethnien. Der Erste Weltkrieg war im wahrsten Sinne des Wortes ein globales Ereignis.

 

Doch gestorben wurde nicht nur an den militärischen Fronten des Krieges. Auch unter den Zivilbevölkerungen forderte der Erste Weltkrieg unermessliche Opfer: als Ergebnis von Krieg und Besatzung, als Folge von Hunger und Epidemien sowie als Ziel völkermörderischer Vertreibungen. Doch anders als bei den gefallenen Soldaten, wo die Mobilmachungsakten und Gefallenenlisten einigermaßen zuverlässige Angaben liefern, lässt sich die Zahl der zivilen Toten des Weltkrieges nicht genau bestimmen. Die Zahl von ca. sechs Millionen getöteter Zivilisten, die wir in der „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“ nennen, gilt zwar als einigermaßen gesichert, doch dürfte sie eher zu niedrig sein. Der Hungerwinter von 1916/17 forderte – auch als Konsequenz der britischen Seeblockade – allein in Deutschland Hunderttausende von Menschenleben, vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten. Waren es vor 1917 vor allem Kleinkinder und Greise, die den Hungertod starben, so raffte die „Spanische Grippe“ seit dem Sommer 1918 Menschen aller Altersgruppen und in allen Nationen hin, deren körperliches Immunsystem durch den Krieg und seine Begleitumstände geschwächt war. Weltweit wird die Zahl der Opfer dieser Pandemie auf mehr als 35 Millionen geschätzt, wobei natürlich ungesichert ist, wie viele davon auf den Krieg selbst zurückgehen.

 

Was bedeutete der „Große Krieg“ für die Soldaten? Die zu Beginn des Weltkrieges weithin propagierten Ideale der individuellen Tapferkeit und des selbstlosen Einsatzes für das Vaterland wurden rasch obsolet; gefragt waren stattdessen Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen unter extremen und widrigsten Verhältnissen. Der heldenhafte Kampf unter den Bedingungen des Stellungskrieges reduzierte sich auf die Erfahrung von Kälte, Schlamm und Nässe, auf das Ertragen von Ungeziefer und Krankheiten und die verzweifelten Versuche, dem feindlichen Artillerie- und Schrapnellbeschuss zu entkommen. Angesichts des weithin anonymen Massensterbens verlor der Tod des Einzelnen seine ihm zugeschriebene Sinnhaftigkeit, nicht nur deshalb, weil die Körper der Gefallenen häufig bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Bemerkenswerterweise stellte grade diese Vorstellung für die Soldaten häufig genug eine traumatische Perspektive dar. „Durch die Kugel zu sterben, scheint nicht schwer; dabei bleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aber zerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei gestampft zu werden, ist eine Angst, die das Fleisch nicht ertragen kann“ – so lautete die entlarvende Mitteilung eines deutschen Soldaten in einem Feldpostbrief an seine Familie.

 

Aus der Beliebigkeit des Massentodes entstand eine neue, ungeheuerliche Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben, die fürchterliche Konsequenzen zeigte. Die totalitären Systeme der 1920er und 1930er Jahre mit ihrer Verachtung und Negierung des Individuums, mit ihren wahnwitzigen Zukunftsvorstellungen und technokratischen Visionen waren direkte Folgen dieser elementaren Kriegserfahrung der Zufälligkeit des Überlebens und Sterbens in militärischen Planungszusammenhängen. Dieses Denken bildete sich bereits während des Krieges heraus, als die Generäle Erich von Falkenhayn, Erich Ludendorff, Ferdinand Foch, Douglas Haig und Robert Nivelle von ihren „weitab vom Schuss“ befindlichen Kommandozentralen Operationen planten und durchführen ließen, die das „Aufopfern“ von Hunderttausenden von Soldaten kaltblütig einkalkulierten. „Maximum slaughter at minimum expense«, zu Deutsch das größtmögliche Gemetzel bei möglichst geringen Kosten – mit dieser zynisch klingenden Feststellung hat der englische Philosoph und Pazifist Bertrand Russell die von der Generalität aller Seiten aufgestellte Kosten-Nutzen-Rechnung über die menschlichen Verluste im Ersten Weltkrieg zutreffend auf den Punkt gebracht.

Gerhard Hirschfeld
Gerhard Hirschfeld ist Professor am Historischen Institut der Universität Stuttgart sowie Gastprofessor an der Universität Wuhan/China
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