Vertontes Trommelfeuer

Musik aus dem Ersten Weltkrieg

In der Zeit des Ersten Weltkrieges sind nur sehr wenige Musikwerke von bleibendem Rang geschaffen worden. Die Jahre unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Krieg sind unvergleichbar reicher an großen, neu geschaffenen Kompositionen. Das liegt zunächst daran, dass viele Komponisten im Kriegsdienst standen und weder Zeit noch Gelegenheit zum Komponieren hatten. Alban Berg hatte 1914 die Idee entwickelt, Georg Büchners „Woyzeck“ in einer Oper zu vertonen, konnte sie aber erst ab 1919 umsetzen, da er fast während der gesamten Kriegszeit im österreichischen Kriegsministerium in Wien Dienst leistete.

 

Andere Komponisten waren durch die aufwühlenden Ereignisse lange Zeit paralysiert und kaum zu schöpferischer Tätigkeit fähig, wie Maurice Ravel. Wieder Andere sahen es als ihre Aufgabe an, ihren Patriotismus in entsprechenden Werken schöpferisch umzusetzen, vor allem, wenn sie zum Kriegsdienst körperlich nicht mehr in der Lage waren, also in gewisser Weise als Ersatzleistung zur Kriegsteilnahme. Die entstandenen Werke, z. B. von Claude Debussy, Max Reger oder Edward Elgar, bedienten sich bei nationalen Hymnen, soldatischen Liedern oder patriotischen Chorälen. Zum Teil wurden die Hymnen der Kriegsgegner musikalisch demoliert, wie in der Ouvertüre „Aus ernster Zeit“ von Felix Weingartner, damals Leiter der Wiener Philharmoniker.

 

Auf der Bühne war die Kriegsoperette erheblich erfolgreicher als die nur wenigen Kriegsopern. Titel wie Walter Kollos „Immer feste druff“ oder Emmerich Kálmáns „Gold gab ich für Eisen“ spiegeln den Zeitgeist von 1914 wider. Unbekannte Komponisten versuchten durch patriotische Werke zu Ruhm und Ehre zu gelangen, was Richard Strauss, der sich mit kriegsbezogener Musik völlig zurückhielt, zu dem Aperçu führte, sie nützten die „Konjunktur“ und lancierten unter dem Deckmantel des Patriotismus das dilettantischste Zeug. Eine Artikelserie in der „Allgemeinen Musikzeitung“ listete unter dem Titel „Musikalische Kriegsrüstung 1914/15“ eine große Zahl solcher Werke auf, die sofort von den Musikverlagen publiziert worden waren. Darüber hi­naus erhofften die Verleger sich pekuniären Gewinn durch das Herausbringen einer Fülle von neuen Kriegsliedern – die Soldaten im Felde jedoch sangen lieber ihre altvertrauten Lieder.

 

Die Massenproduktion patriotischer Musik ebbte im Laufe des Jahres 1915 ab, als deutlich wurde, dass die Hoffnung, Weihnachten 1914 wieder zu Hause zu sein, sich als trügerisch erwiesen hatte und die Trauer über die vielen Kriegstoten immer mehr um sich griff.

 

Die Erinnerungskultur muss sich folglich schwertun mit der Musik. Während ab 2014 in ganz Europa bedeutende Ausstellungen zur Verarbeitung des Ersten Weltkrieges in der Bildenden Kunst zu sehen waren, muss es Konzertveranstaltern schwerfallen, überhaupt nur ein einziges gültiges Programm zusammenzustellen. In der Not verkaufen sie unter dem Label des Ersten Weltkrieges Programme, in deren Werken sich nur mit blühender Fantasie oder großem hermeneutischen Aufwand ein Kriegsbezug erkennen lässt. Der allergrößte Teil der kriegsbezogenen Musik aus dem Ersten Weltkrieg ist heute in ihrer patriotischen Attitüde unaufführbar. Am ehesten lassen sich Kunstlieder für solche Programme finden.

 

In dieser intimen vokalen Gattung konnten Komponisten auch ihr Entsetzen über die unvorstellbare Brutalität des Krieges zum Ausdruck bringen, ebenso wie ihre Trauer über Verluste im unmittelbaren Umfeld. Auch das Leid der Frauen über den Verlust des Ehemannes oder der Kinder wurde immer wieder zu Gehör gebracht. Geeignete Orchesterwerke für kriegserinnernde Konzerte schrieb Maurice Ravel mit „Le Tombeau de Couperin“ und mit „La Valse“. Im „Tombeau“ (1914 bis 1917) komponierte er mit Bezug auf den Barockkomponisten französische Satztypen der Zeit wie „Menuet“ oder „Rigaudon“ im Ravelschen Klanggewand, die er Gefallenen aus seinem Bekanntenkreis widmete. „La Valse“ sollte vor dem Krieg eine Huldigung des Wiener Walzers werden, sie endet bei ihrer Fertigstellung 1919/20 nach dem Untergang der Wiener Monarchie jedoch im völligen Zusammenbruch.

 

Nach seinem Ende hat der Krieg quasi noch eine eigene Gattung hervorgebracht: Der Pianist Paul Wittgenstein, der als Soldat seinen rechten Arm verlor, nutzte das große familiäre Vermögen, Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag zu geben. Es entstanden in den 1920er und 1930er Jahren vor allem Klavierkonzerte unter anderem von Sergei Sergejewitsch Prokofjew, Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold und auch Maurice Ravel. Obwohl Wittgenstein die Musik aufgrund ihres Avantgardepotenzials häufig nicht gefiel, kann ihre Aufführung heute einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten. Das beste Werk, dem Ersten Weltkrieg musikalisch zu begegnen, schuf Benjamin Britten 1962 mit seinem War Requiem, in das er Kriegsgedichte des jungen, in den letzten Kriegstagen 1918 gefallen englischen Dichters Wilfred Owen in ergreifender Weise integrierte.

Stefan Hanheide
Stefan Hanheide ist Professor am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Osnabrück
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