Der „Welt“ im Weltkrieg gedenken

Der Erste Weltkrieg und der Anfang vom Ende der Kolonialreiche

Die Vertreter der Kolonialmächte in Versailles standen vor dem Problem, die von ihnen gewünschte Umverteilung rechtfertigen zu müssen. Als Lösung entwarf der aus Südafrika stammende Vertreter Großbritanniens, Jan Smuts, das sogenannte „Mandatssystem“. Da, so die selbst in einer kolonialen Kontinuität stehende Argumentation, die Bevölkerung in den ehemaligen Kolonien und abhängigen Gebieten des Deutschen und des Osmanischen Reiches noch nicht reif für die Selbstbestimmung sei, würden die Kolonialmächte im Auftrag des neu gegründeten Völkerbundes die Verwaltung dieser Gebiete übernehmen, mit dem Ziel, diese auf die Selbstbestimmung vorzubereiten. Damit konnten auch die USA zustimmen, die Reiche der Kriegsverlierer waren de facto verteilt.

 

Dennoch erwies sich dieser diplomatische Trick als folgenreich. Denn wenn sie sich auch nicht daran hielten, die neuen Mandats-, die alten Kolonialmächte und Südafrika hatten einem „Entwicklungsauftrag“ für die Kolonien zugestimmt. Die Kolonialherrschaft war damit nicht mehr nur durch die Interessen der Kolonialmächte legitimiert, sondern die Interessen der Kolonisierten als Maßstab war festgeschrieben. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die Kolonialkritik auf die verletzte und von den Kolonialmächten selbst zugestandene Fürsorgepflicht berufen, und aus der Vernachlässigung die Forderung nach dem Ende der Kolonialherrschaft ableiten.

 

Der Friede von Versailles ist damit zweifellos ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Kolonialismus. Ein Wendepunkt auch deshalb, weil der Kampf der Kolonialmächte gegeneinander die Kolonisierten gelehrt hatte, dass sie keineswegs einer einheitlichen Phalanx der europäischen Nationen gegenüberstanden, und noch wichtiger, dass „Weiße“ nicht unbesiegbar waren. Sowohl auf den Kriegsschauplätzen in Afrika als auch auf den europäischen Schlachtfeldern sahen die kolonialen Truppen, dass ihre imperialen Herren genauso litten, verletzt wurden und starben wie sie selbst. Um genau diesen Eindruck zu verhindern, hatte es schon seit der Berliner AfrikaKonferenz 1884/85 Bestrebungen gegeben, Afrika im Falle eines Krieges der europäischen Mächte untereinander zu neutralisieren. Es kam anders, und die Saat für die Dekolonisation vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg war gelegt.

 

Zunächst aber wuchsen Empire und Kolonialbegeisterung an. Das Britische Empire, das größte Imperium der Geschichte, erreichte seine größte Ausdehnung in den 1920er Jahren, auch dank der Zugewinne in Versailles. Viele Deutsche fühlten sich nicht nur durch die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, die in den Friedensvertrag von Versailles aufgenommen worden war, gedemütigt, sondern auch durch die Wegnahme der Kolonien und die im Vertrag festgestellte Unfähigkeit der Deutschen zur Kolonisation. Der Kampf gegen die „Kolonialschuldlüge“ wurde wie der gegen die „Kriegsschuldlüge“ zu einem Mobilisationskern des Kampfes gegen das „Diktat von Versailles“ und gegen die Weimarer Republik. Die Kolonialbegeisterung in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt in den 1930er Jahren. Viele Kolonialrevisionisten fühlten sich zu den Nationalsozialisten hingezogen, weil sie erwarteten, dass diese mit der Überwindung von „Versailles“ auch die deutschen Kolonien zurückerlangen würden. Sie täuschten sich. Das Kolonialreich, das die Nationalsozialisten planten und mit dem Überfall auf Polen und dem Einmarsch in die Sowjetunion auch zu verwirklichen begannen, sollte im Osten liegen. Der Zweite Weltkrieg, der auch um das deutsche Kolonialreich im Osten geführt wurde, besiegelte dann endgültig die Zukunft der Kolonialreiche.

Jürgen Zimmerer
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt auf Afrika an der Universität Hamburg und Leiter der dortigen Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) Globalisierung".
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